Konferenz
Was folgt auf die Osterweiterung der Europaeischen Union?
Der Fall Polen/Ukraine
22.-25. Mai 2001 Lwiw-Przemysl
Michael Emerson
Brüsseler “Centre for European Policy Studies” .
Erschienen auf der Website des CEPS
“Grenzgebiet Europa: Galizien, Schengen und was wird aus der Ukraine?”
Etwas bemerkenswertes geschah am 23.Mai 2001 in der Stadt Przemysl in
Ostpolen, in unmittelbarer Nachbarschaft der westukrainischen Region Galizien,
deren Hauptstadt Lviv ist. Der Bürgermeister von Przemysl begrüßte
eine Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung aus Berlin, die eine Anzahl
von polnischen, ukrainischen, französischen, deutschen und anderen EU-Individuen
(u.a. auch ich selber) eingeladen hatte, damit sie die Implikationen der
EU-Osterweiterung für diese Grenzregion untersuchen sollten. Wie für
diese Konferenz bestellt konnte der Bürgermeister einen Artikel von Goran
Persson und Romano Prodi präsentieren, der am Vortag in der “International
Herald Tribune” erschienen war und in dem vorgeschlagen wurde, den Beziehungen
zwischen der sich erweiternden EU und der Ukraine eine Priorität einzuräumen.
Im Einzelnen schlugen die Präsidenten der beiden EU-Institutionen vor,
dass die Nachbarn der Ukraine und künftigen EU-Mitgliedstaaten (Polen,
Slovakei, Ungarn und Rumänien) zusammen mit der EU die Initiative zur
Zusammenarbeit mit der Ukraine ergreifen sollten. Die Persson-Prodi-Initiative
wurde von den regionalen Autoritäten und den Vertretern der Geschäftswelt
sowie der Zivilgesellschaft von Przemysl sowie den (nichtoffiziellen)
Repräsentanten Galiziens sofort begrüßt (Stellungnahmen der ukrainischen
Autoritдten lagen noch nicht vor).
Die Region, und ganz besonders Galizien, war eines der klassischen Opfer
des europäischen 20.Jahrhunderts und der Politik der damaligen Großmächte.
Zu Beginn des 20.Jahrhunderts war Galizien Teil des Österreichisch-Ungarischen
Imperiums. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es ein Teil Polens. Nach dem
Zweiten Weltkrieg wurde es Teil der Sowietunion, und die Grenzgebiete
erlitten fürchterliche, tragische “ethnischen Säuberungen” der polnischen
bzw. der ukrainischen Bevölkerung aus den jeweils anderen Territorien.
Vorausgegangen war die Vernichtung der in dieser Region bedeutenden jüdischen
Bevölkerung unter Hitler. Dann fand sich Galizien 1991 als Region der
neuerdings unabhängigen Ukraine. Heute herrscht Friede zwischen der Region
von Przemysl und Galizien, und zwischen Polen und der Ukraine. Trotz der
großen historischen Lasten haben sie eine Versöhnung erreicht, vergleichbar
der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland und ihrer Grenzregionen
am Rhein. Und nun also steht Polen kurz davor, ein Mitgliedstaat der Europäischen
Union zu werden. Aber die Grausamkeit der Geschichte ist nicht vergessen.
Man befürchtet eine neue “Berliner Mauer” zwischen den beiden Regionen
und Nationen, verursacht durch eine harte und gedankenlose Anwendung des
Schengener Grenzregime. So also die Befürchtung. Ist sie gerechtfertigt?
Heute ist die Grenze zwischen Polen und der Ukraine schlecht genug, und
zwar Jahre bevor Schengen angewendet werden soll, sodass es gelinde gesagt
voreilig wäre, sich über Schengen zu beklagen. Beispielsweise brauchte
man in dem verschlafenen kleinen lemberger Flughafen zwei Stunden, um
die Passagiere eines kleinen Flugzeugs durch die Passkontrolle zu schleusen
– weit und breit keine andere Flugzeug-Ankunft oder -Abflug in Sicht.
Die Prozedur der Passkontrolle war ein Museumsstück von bürokratischer
Kompliziertheit.
Auch der Grenzübergang zu Lande war ein denkwürdiges Erlebnis. Auf
dem Weg nach Polen verbrachte unser Bus mit internationalen Besuchern
wiederum zwei Stunden an der Grenze, und es war schwer zu sagen, ob die
polnischen oder die ukrainischen Beamten langsamer arbeiteten. Aber unser
Erlebnis war vergleichsweise eine Lappalie. Denn neben uns, in der regulären
Schlange für den lokalen Verkehr, standen so um die zweihundert Wagen,
und diese bewegten sich kaum von der Stelle. Sie müssen wohl sechs Stunden
oder mehr gebraucht haben. Jemand sagte, dass jeder Wagen auf Schmuggelware
durchsucht werde, ein anderer meinte, die zeitraubenden Verhandlungen
um die Höhe der Schmiergelder seien des Rätsels Lösung. Wir kamen dann
auf der Rückfahrt von Polen in die Ukraine über einen anderen Kontrollpunkt,
ein Schmuckkästchen von Grenzübergang, modern, große Kapazität, die
Infrastruktur in der Tat eindrucksvoll. Anfahrt über eine schöne neue
Straße, finanziert von der Europäischen Union, wie man einem Hinweisschild
entnehmen konnte. Die Grenzstation selbst ein riesiger Neubaukomplex in
der Art einer breiten Autobahn-Zollstation, die gleichzeitig auf vielen
verschiedenen Spuren die Reisenden abfertigen kann. Das ist die gute Nachricht.
In der Tat, die Schlangen auf den vielleicht ein dutzend Fahrspuren waren
kurz verglichen mit dem, was wir am Vormittag erlebt hatten. Aber die
schlechte Nachricht: Wir brauchten diesmal ebenso lang für Zoll- und
Passkontrolle, die Gründe dafür waren nicht zu erkunden. Zum großen
Teil ist der lokale Verkehr banaler Kleinsthandel und Kleinstschmuggel,
beispielsweise nur ein paar Kartons Zigaretten oder Wodka. Fußgänger
mit dem Minimum erlaubter zollfreier Ware können die Grenze etwas schneller
überqueren, und sie nehmen dann auf der anderen Seite der Grenze Wagen
oder Busse zum nächsten Markt. Solche Gänge kann man jeden Tag oder
auch mehrmals am Tag unternehmen, und mancher Arbeitslose aus Galizien
kommt so zu einem kleinen (lebenswichtigen) Einkommen.
Ein Vergleich der beiden Grenzregionen fällt für Galizien grausam aus.
Die Stadt Lemberg war ein nördlicher Vorposten des Habsburger Monarchie,
reich an stilvoller Architektur. Heute sind Stadt und Region der westlichste
Vorposten der ehemaligen Sowiet-Union, unfähig mit den polnischen Westregionen
gleichzuziehen und deren offensichtlichen Modernisierung und Erneuerung.
Der Alltag in Lwiw wird bestimmt von Wassermangel – es fließt pro Tag
nur 3 Stunden – und ernsthaften Problemen mit der Elektrizität, nächtens
eine sehr lückenhafte Straßenbeleuchtung.
Natürlich lastet die politische Krise der Ukraine auf dem ganzen Land.
Die Ukraine hat für den Aufbau seines postkommunistischen Transformations-Staates
ein zentralistisches Modell gewählt. Die zentralistische Regierung der
Ukraine ist bekanntlich in einer schlechten Verfassung. Aber das bedeutet
auch, dass der Spielraum für regionale Initiativen erstickt wird, obwohl
doch Galiziens Nähe zum Westen und seine Geschichte und Traditionen es
möglich machen könnten, ein regionales Konzept für einen schnelleren
Fortschritt zu liefern. Ein föderales Konzept für die Ukraine wäre
hilfreich gewesen, aber man hat es fallen lassen als eine zu gefährliche
Option, weil sie den Aufbau des Nationalstaates unterminieren könnte.
Gleichwohl muss die EU nun ernsthaft daran arbeiten, ein grenzfreundliches
Schengen-Regime zu entwerfen. Diese Frage hat bisher noch keine politische
oder administrative Priorität erfahren. Die Betonung lag bisher auf dem
Aufbau der inneren Dimension der europäischen Integration – bei Justiz
und Innenpolitik. Die äußere Tragweite dieser Innenpolitik wird erst
langsam im Zuge des Erweiterungprozesses sichtbar. Der Konkurrenzdruck
im Erweiterungsprozess entmutigt die Kandidatenländer wichtige Fragen
aufzuwerfen, wie nämlich Schengen so angewendet werden könnte, dass
der Konfliktstoff an der künftigen Ostgrenze der EU vermindert würde.
Die Priorität für die Beitritts-Kandidaten heisst aber, so viele Verhandlungskapitel
so schnell wie möglich zu erledigen und dabei Fragen nach besonderen
Übergangsregelungen besser zu vermeiden, mit Ausnahme von Fällen höchster
politischer Bedeutung.
Deshalb ist es prinzipiell wünschenswert, dass die EU selbst eine aktive
Rolle bei der Problem-Analyse schon im Vorfeld spielt und den Kandidatenländern
Lösungen vorschlägt. Das den Kandidatenländern selbst zu überlassen
wäre ein moralisches Hazardspiel – entweder sie ignorieren die Interessen
ihrer östlichen Nachbarn, oder sie beschädigen ihre eigene Verhandlungsposition.
Angesichts dieses Hazardspiels bleibt kein Zweifel, was sie wählen werden.
Daher das hörbare Schweigen Polens und anderer Kandidatenstaaten zu den
Interessen ihrer östlichen Nachbarn.
Im Folgenden einige Gedanken von Leuten, die die Probleme analysieren
und nach Lösungen suchen, insbesondere in Kenntnis der Persson-Prodi
Initiative bezüglich der Ukraine.
(1) Mehrfach-Visa: Estland und Russland haben sich bereits auf
einen Entwurf geeinigt für ein langfristiges und kostenloses Mehrfach-Visum
für Einwohner der Grenzregion von Narva-Ivangorod. Polen und die Ukraine
könnten einen ähnlichen Entwurf für ihre Grenzregionen vorlegen und
die EU könnte beiden Seiten ermutigen, ihn zu verwirklichen.
(2) EU Konsulate in der Grenzregion. Die EU und die Kandidatenstaaten
sollten jetzt mit den Planungen für eine angemessene Zahl von Konsulaten
in diesen Grenzregionen beginnen, sodass Visagesuche für alle Schengenstaaten
in einem oder mehreren Konsulaten von EU-Mitgliedstaaten in regionalen
Zentren wie z.B. in Lwiw bearbeitet werden können.
(3) Verzögerungen bei Zoll- und Passkontrolle. Wie beschrieben
gibt es ernsthafte Probleme schon vor Polens Beitritt zur EU und Schengen.
Diese Verzögerungen sind unentschuldbar. Die Verantwortung liegt bei
den polnischen und ukrainischen Behörden. Möglicherweise sollten hier
von der EU Zoll-Personal verübergehend abgestellt werden, um zu helfen
und Korrekturen zu überwachen.
(4) Visa-Regime für EU-Besucher der Ukraine. Die ukrainischen
Autoritäten sollten die Visapflicht für Besucher aus der EU abschaffen,
weil es ein unnötiges Hindernis für Tourismus und Handel darstellt.
Wenn der Staat meint, er kann auf die Einkünfte nicht verzichten, dann
könnte man Visa am Grenzübergang kaufen verbunden mit einer einfachen
schnellen Formalität (wie es die Türkei macht). Diese einseitige Maßnahme
wäre der Ukraine gegenüber nicht unfair, da ja die EU größere Anstrengung
unternehmen würde, um der Grenzregion auf andere Weise zu helfen.
(5) Elektronische Grenze. Der technische Fortschritt macht es
möglich, beträchtliche Erleichterungen bei der Grenzformalitäten zu
planen, z.B. mit maschinenlesbaren Pässen und Visa. Auch könnten die
EU-Grenzposten, die online mit dem Schengen Informations-System verbunden
sind, so ausgebaut werden, dass Visa auf der Stelle erneuert werden können.
Die EU sollte die Einführung eines System mit “smart cards” (wie
eine Kreditkarte mit Foto) in Betracht ziehen, um Kurzzeitbesuche kontrollieren
und aufzeichnen zu können (wie es an der Grenze USA/Mexiko für die dortigen
Pendler gehandhabt wird).
(6) Euro-Region Status. Die Persson-Prodi Vorschläge gehen in
die Richtung (ohne es auszusprechen), das Konzept der Euro-Region auf
die Grenzgebiete der Ukraine mit den künftigen EU-Mitgliedsstaaten (Polen.
Slowakei, Ungarn, Rumänien) anzuwenden. “Euro-Region” heißt bevorzugter
Einsatz von politischen und finanziellen Mechanismen um die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit zwischen verschiedenen EU-Staaten und/oder Kandidatenstaaten
zu verbessern. Die Ukraine als Ganzes kann zwar nicht als Beitrittskandidat
behandelt werden, aber mit dem politischen Willen, den die Persson-Prodi-Initiative
ausdrückt, sollte eine Ausweitung der Euro-Region-Mechanismen auf unsere
Grenzregion möglich sein.
Die EU-Beitrittsperspektive der Ukraine. Über die sehr viel größere
Frage einer EU-Mitgliedschaft sollte man sich keine Illusionen machen,
sie steht auf viele Jahre nicht an. Gleichwohl bleibt es eine lFrage von
vitalem Interesse für die Öffentliche Meinung und für die Strategien
von Unternehmen, Regierung und Individuen der Ukraine zu wissen, wo die
Zukunft des Landes liegt. Die EU sollte die Perspektive einer Mitgliedschaft
der Ukraine anerkennen und begrüßen. Das ist kein politisch voreiliger
oder operational überflüssiger Vorschlag. Das betrifft die Richtung
der ukrainischen geopolitischen Zukunft heute. Viele in der EU werden
einwenden, die Erfahrung mit der langfristigen Kandidatur der Türkei
sei keineswegs ermutigend für eine weitere sehr langfristig angelegte
Verpflichtung. Aber die Fälle sind ziemlich unterschiedlich. Die Ukraine
von heute zögert zwischen einer West- (EU) und einer Ost- (Russland)
Orientierung, in einer Zeit, in der Russlands Politik ganz offen auf eine
Wiederbelebung der früheren Sowiet-Union zielt, wo immer sich eine Möglichkeit
bietet, wobei quasi Zwangs-Taktiken nicht ausgeschlossen sind (siehe Georgien).
Die EU und Russland trachten nach einer zunehmend verstärkten strategischen
Parterschaft, und das ist gut so. Aber wenn die Ukraine ihrerseits nun
langfristig eine Integration in die EU anstrebt, dann sollte das ermutigt
werden, so dass es auch die Bevölkerung bemerkt, also nicht nur in der
diplomatisch/bürokratischen Redeweise wie “Ausschöpfen des ganzen
Potenzials des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens”. Die Perspektive
einer EU-Mitgliedschaft, und wenn auch nur einer langfristigen, bedeutet
etwas.