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Was folgt auf die Osterweiterung der Europäischen Union?
Der Fall Polen/Ukraine

22.-25. Mai 2001 Lwiw-Przemysl

Vorträge + Protokolle


Anna Veronika Wendland

Lemberg und Przemyśl: Zwei galizische «Grenzstädte» und die polnisch-ukrainischen Beziehungen im 20. Jahrhundert

An die Zeiten, da Lemberg und Przemyśl nicht durch eine Staatsgrenze getrennt waren, erinnern sich heute nur noch die Alten. Damals waren die beiden keine Grenz- sondern Schwesterstädte – wobei übrigens das viel kleinere Przemyśl die ältere, gut eineinhalb Jahrhunderte ältere «Schwester» war. Lemberg-Lwów-L'viv und Przemyśl-Peremyšl': Reisenden, die die heutige Grenzlinie überschreiten, fällt sofort das frappierend ähnliche Weichbild ins Auge. Schloßberg und Stadt, «Ringplatz»-Marktplatz und barocke Architektur, römisch-katholische und griechisch-katholische Kirche(n), Katzenkopfpflaster aus vermutlich noch Kaisers Zeiten. Einzig der Fluß, der Przemyśl so reizvoll macht, fehlt in der ostgalizischen Metropole – die etwas schmalbrüstige Lemberger Poltva, die dem San  keine Konkurrenz machen könnte, wurde schon um die Jahrhundertwende unter die Erde verbannt. Trotzdem läßt der erste visuelle Eindruck einen Schluß zu: Die beiden Städte gehören eigentlich zu ein und derselben Kulturlandschaft, die heute von einer Grenze zerschnitten wird. Vor der Festlegung der «Curzon-Linie», die in modifizierter Form Pate für die polnisch-sowjetische Grenzziehung gestanden hat, waren Lemberg und  Przemyśl durch die vielfältigsten administrativen Zusammenhänge verkoppelt: Sie lagen in demselben Oberlandesgerichtsbezirk, denselben Erzdiözesen bzw. Erzeparchien; administrativ gehörte Przemyśl also damals gerade noch zu «Ostgalizien», dessen Hauptstadt Lemberg war und ist.

Verschwistert waren die beiden Städte aber auch in vieler anderer Hinsicht: Kristallisationspunkte der Urbanität im agrarischen Galizien, kulturell-kirchlich-politische Zentren für alle Bevölkerungsteile, die Galizien konstituierten, seien es nun Polen, Ukrainer, Juden oder (polonisierte) Armenier. Eine «spiegelbildliche» Geschichte prägt Lemberg und Przemyśl seit dem Mittelalter: Die ruthenischen Ursprünge, die Inkorporation ins Königreich Polen, die erste Blüte der Stadtkultur unter von polnischen Königen verliehenem Magdeburger Recht, die durch Königsprivilegien relativ abgesicherte Stellung der Judengemeinden; der lange Niedergang im 17. und 18. Jh. mit Kriegen, Krisen, Invasionen und schließlicher Annexion durch Österreich. Die Stadtgeschichte der beiden «Schwestern» liest sich als ein Konzentrat der allgemeinen galizischen Landesgeschichte. Somit hat Lemberg mit Przemyśl eigentlich mehr gemeinsam als mit Galiziens ehemaliger «zweiter Hauptstadt» Krakau. Die beiden großen Völker Galiziens, die Polen und die Ukrainer, haben die Geschichte beider Städte im Guten wie Bösen gemacht.

Lemberg hatte für  Polen, Ukrainer und Juden gleichermaßen eine außerordentlich große praktische und symbolische Bedeutung. In der galizischen Metropole konzentrierten sich politisch-kulturelle Netzwerke und öffentliche Sphären aller genannten Gruppen. Lemberg-Lwów  war neben Krakau die Hochburg polnischer Kultur und Wissenschaft. Die Ossolińskische Nationalstiftung (Zakład narodowy im. Ossolińskich), das sogenannte Ossolineum, verfügte über eine der bedeutendsten Bibliotheken und Handschriftensammlungen Polens; auch Ausstellungen, Versammlungen und gesellschaftliche Ereignisse fanden in dem klassizistischen Gebäude statt, in dem heute die Stefanyk-Bibliothek zu Hause ist. Auch das Anfang des 20. Jahrhunderts nach Wiener Vorbild errichtete Stadttheater war Zentrum und Schnittstelle des bürgerlichen und adligen polnischen Gesellschaftslebens. Das Polytechnische Institut und die Jan-Kazimierz-Universität – österreichische Gründungen, die aber im Zuge der Autonomisierung faktisch zu polnischen Institutionen wurden – entwickelten sich zu Zentren der polnischen Wissenschaft. Vor allem aber war Lemberg die Kapitale der polnischen politischen und wirtschaftlichen Emanzipation vor dem Ersten Weltkrieg. Neben den genannten Bildungsinstitutionen produzierten die Landesverwaltung und ein dynamisch wachsender Dienstleistungssektor (Banken, Versicherungen, Freie Berufe) ein Heer von polnischen Spezialisten, die später für die Wiedererrichtung des polnischen Staates von außerordentlichem Nutzen sein sollten.

Alle genannten Institutionen und Wirtschaftssektoren waren auch von großer Bedeutung für die Werdegänge vieler zunächst deutsch, seit 1867 zunehmend auch polnisch akkulturierter galizischer Juden seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Deren publizistisches Sprachrohr, die in polnischer Sprache erscheinende Tageszeitung Chwila, gehörte zu den renommiertesten Zeitungen Galiziens und später auch der Zweiten Polnischen Republik. Die große Judengemeinde Lembergs verfügte über ein dichtes Netz religiöser, kultureller, sozialer und medizinischer Einrichtungen der unterschiedlichsten Observanz – reformiert-liberal, orthodox, chassidisch – die spezifische jüdische öffentliche Sphären konstituierten und darüberhinaus auch wichtige Arbeitsplätze schufen. All diese jüdischen Institutionen waren vor allem im traditionellen Wohnviertel der Lemberger Juden, dem Žovkvaer Bezirk nördlich der Altstadt, konzentriert – einem eng bebauten und dichtbesiedelten Stadtteil, dem jüdische Aufsteiger durch Wegzug in die polnisch dominierten Bürgerviertel zu entkommen suchten.

Lembergs Bedeutung für die Ukrainer ähnelte der Rolle, die die Stadt im gesellschaftlichen Leben der Polen spielte. Die ukrainischen Städter – die sich übrigens vielfach nicht mehr durch ihre Sprache, sondern lediglich durch ihre griechisch-katholische Konfession von den Polen unterschieden – waren mit nur zwölf bis fünfzehn Prozent der Stadtbevölkerung zwar stets eine kleine Minderheit, aber Lemberg war unbestritten die Hauptstadt der ukrainischen sozialen Mobilisierung. Im Zuge des Ausbaus der galizischen Bildungsinstitutionen seit der Revolution von 1848 waren ganze Generationen von ukrainischen Pfarrerssöhnen in weltliche Berufe geströmt; in Lemberg wurden sie ausgebildet, und hier wirkten sie als Anwälte, Lehrer, Journalisten und Politiker. Zu ihnen stießen die ersten Generationen gut ausgebildeter Bauernkinder mit Lemberger «Hauptstadt»-Erfahrung – eine ganz neue, urbane ukrainische Elite, die die vornehmlich auf den Dörfern angesiedelte traditionelle Führungsschicht der griechisch-katholischen Kleriker allmählich ablöste. Lembergs enorme Bedeutung für das ukrainische Ostgalizien resultierte auch aus der Tasache, daß fast alle Bildungsvereine, Kulturorganisationen, Presseorgane und politischen Parteien der Ukrainer ihren Hauptsitz in der Stadt hatten. Sie stellten – auch von der urbanen Topographie her – gleichsam Inseln der ukrainischen Öffentlichkeit in der ansonsten polnischen Stadt dar. Erwähnt seien an dieser Stelle nur das «Nationalhaus» (Narodnyj dim) als größter Versammlungsort sowie das Viertel um die Vulycja Rus’ka (Ruthenische Straße), wo sich nicht nur alterwürdige Institutionen wie die ruthenische Stadtpfarrkirche und das seit der Frühneuzeit aktive Stauropygian-Institut mit seiner Druckerei befanden, sondern auch wichtige moderne ukrainisch-nationale Bildungsgesellschaften und die erste ukrainische Versicherungsgesellschaft, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in einem der schönsten Jugendstilgebäude der Stadt residierte. Vor allem aber war Lemberg die Hauptstadt der ukrainischen griechisch-katholischen Nationalkirche Galiziens, und der hoch über der Stadt auf dem St.-Georgs-Berg residierende Metropolit Andrej Šeptyc’kyj war einer ihrer (auch bei den Nichtukrainern) angesehensten nationalen Führer.

Przemyśl hatte für die Völker Galiziens ähnliche Funktionen, nur in einem der Größe der Stadt entsprechenden Maßstab – schließlich hatte die Stadt im 19. Jahrhundert gut siebenmal weniger Einwohner als Lemberg. Trotzdem finden wir auch hier wichtige ukrainische Institutionen mit Ausstrahlung in das flache Land (Kirche, Schulwesen) und ein großes polnisches Kulturerbe; vor allem als Zentrum der polnischen Renaissancekultur und der von polnischen Magnaten finanzierten weltlichen wie kirchlichen Bauten war Przemyśl in ganz Polen berühmt. In beiden Städten fanden Polen, Ukrainer und Juden ähnliche Bedingungen vor und durchliefen ähnliche Prozesse der Modernisierung und Mobilisierung. Neben dem merklichen und allmählich zunehmenden Druck der ethnischen Konstrukte standen auch mannigfaltige gegenseitige Beeinflussungen. Bei allen Gegensätzen teilten die galizischen Stadtbewohner jedweder Herkunft ein bestimmtes politisch-kulturelles Erbe, das entscheidend während der anderthalb Jahrhunderte unter habsburgischer Herrschaft geprägt wurde.

Die unterschiedlichen, sich längs sozial-religiös-ethnischer Orientierungslinien bildenden öffentlichen Foren der Galizier waren alle seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund eines allgemeinen Prozesses entstanden, der die gesamte Habsburgermonarchie erfaßt hatte. Zuerst die Revolution von 1848, nach dem neoabsolutistischen Rückschlag dann der konstitutionelle Prozeß ab Beginn der 1860er Jahre stellten den institutionell-rechtlichen Rahmen bereit, innerhalb dessen eine «komplementäre Kommunikation» (Karl Deutsch) zwischen Eliten und konnationalen Unterschichten stattfinden konnte, die dann ihrerseits erst die Nationalgesellschaften der Polen und Ukrainer sowie die zwischen den Fronten des polnisch-ukrainischen Konflikts stehende jüdische Gemeinschaft konstitutierte. Die Städte Galiziens und insbesondere die Kronlandhauptstadt waren die Orte, an denen neue Öffentlichkeitsformen unter Ausnutzung der neuen Rechtsgarantien (Presse-, Vereins- und Versammlungsrecht) entstanden. So sehr man sich also später, im Zeitalter der Nationalismen, voneinander distanzierte, so ähnlich war man sich doch in den beiden slavischen Nationen Galiziens. Das zeigen Karrierewege, biographische Muster, Lebensstile; auch die Sprache – schließlich sprachen die meisten gebildeten ukrainischen Städter selbstverständlich Polnisch – und in vielen polnischen Erinnerungen an das alte Galizien wird erwähnt, daß man mit Dienstboten und Bauern selbstverständlich «Ruthenisch» sprach. Auch die politischen Kulturen weisen frappierende Parallelen auf, im Positiven wie im Negativen. Bei den Polen und Ukrainern Galiziens war beides zuhause – der sprichwörtlich gewordene austriakische Legalismus, die parlamentarische Übung, das Vertrauen auf die Macht des Wortes – aber auch die berüchtigte galizische Prozeßsucht, die Bauer, Bürger und Edelmann gleichermaßen auszeichnete, die Instrumentalisierung des Parlaments für nationale Sonderinteressen und die zunehmende Militarisierung der politischen Sprache. In gegenseitiger Inspiration entstanden Zielvorstellungen vom gleichberechtigten Zusammenleben der Nationalitäten – aber eben auch von ethnisch integrierten Nationalstaaten, in denen die jeweiligen «Anderen» allenfalls als Minderheit toleriert werden sollten.

Genau dies wurde zum Hauptproblem des Zusammenlebens im 20. Jahrhundert. Auch in den ostgalizischen Städten wurden solche Entwicklungen zunehmend spürbar. So hatte die  Landeshauptstadt Lemberg im Vergleich zu Krakau, der Bastion der polnischen Traditionalisten und Konservativen, als die progressivere und liberalere der beiden «galizischen Hauptstädte» gegolten; dies betraf nicht nur die politischen Traditionen innerhalb der polnischen Gesellschaft, sondern auch die kosmopolitische Welt der Theater, Kaffeehäuser, später auch der Kinos und Tanzlokale, auf die man in Lemberg stolz war. Zunehmend  vergiftete jedoch der sich verschärfende polnisch-ukrainische Konflikt die Atmosphäre in der Stadt. Eigentlich war es ein Konflikt, der aufgrund der Bevölkerungsverhältnisse vor allem auf dem Lande ausgetragen wurde. Die soziale Mobilisierung der Ukrainer und die spezifischen Funktionen der galizischen Metropole trugen den Konflikt jedoch auch mitten hinein in die Lemberger Stadtgesellschaft. Vor allem die Auseinandersetzungen um die Errichtung einer ukrainischsprachigen Universität in Lemberg – eine Ausweitung und Aufwertung der ukrainischen Öffentlichkeit in der Stadt, die die polnische Seite unbedingt verhindern wollte – waren von Studentenunruhen begleitet und gipfelten 1908 sogar in der Ermordung des galizischen Statthalters durch einen ukrainischen Attentäter. Solche Ereignisse erschwerten Ausgleichsverhandlungen zwischen Polen und Ukrainern enorm, und der Ausgleich, der 1914 schließlich zustandekam, konnte die Kluft zwischen den beiden großen Nationen Galiziens nicht mehr zuschütten.

Der Erste Weltkrieg schließlich wirkte als Katalysator, der nicht nur die Projekte der konkurrierenden Nationalbewegungen hinsichtlich Galiziens konkretisierte, sondern auch die Wahl der Mittel, mit denen man das jeweilige nationale Ziel erreichen wollte, wesentlich mitbestimmte. War vor 1914 die gewalttätige Auseinandersetzung zur Erreichung politischer Ziele doch die Ausnahme geblieben, brachten die alltäglichen Kriegserfahrungen der Lemberger in den Jahren 1914-1918 auch eine Brutalisierung mit sich, die nachfolgende Konflikte fast unausweichlich in bewaffnete Auseinandersetzungen ausarten ließ. So war der polnisch-ukrainische Bürgerkrieg um den Besitz Ostgaliziens 1918-20 letzten Endes die fast zwangsläufige Folge einer Entwicklung, die lange vorher begonnen hatte – und gleichzeitig der Beginn einer noch nachhaltigeren Entfremdung, die die zwischennationalen Beziehungen der Nachkriegsära vergiften sollte. Die offizielle Festkultur, die während der Zwischenkriegszeit von den siegreichen Polen in den ostgalizischen Städten zelebriert wurde, betonte vor allem die sogenannte polskość, den polnischen Charakter des Landes. Im Zentrum stand die ritualisierte öffentliche Erinnerung an die Ereignisse des «Lemberger November» (lwowski listopad) von 1918, des von den polnischen Stadtbewohnern wesentlich mitgetragenen erfolgreichen Aufstands gegen die provisorische ukrainische Regierung Ostgaliziens. Der polnisch-patriotische Diskurs in und über Lemberg sah – mit Anspielung auf die demographischen Verhältnisse –  die Stadt als «Insel» im ukrainischen «Meer» und als Bollwerk des Polentums inmitten der feindlichen Umwelt der «Grenzmarken» (kresy), jenseits derer die östlichen «Horden» drohten. Das westlicher gelegene Przemyśl mit seinem wesentlich höheren ukrainischen Bevölkerungsanteil und seinem polnisch-ukrainisch gemischten Hinterland hingegen eignete sich weniger für eine solche verbale Aufrüstung, obwohl auch hier derartige Versuche gemacht wurden.. Auf  jeden Fall gebührt den polnischen  Patrioten das zweifelhafte Verdienst, den Grenzlandcharakter der Region Ostgalizien in eine nationale Exklusionsideologie integriert zu haben, anstatt die Ambivalenzen und Brückenfunktionen zu betonen, die solche Grenz- und Mischregionen auch charakterisieren. Auf der anderen Seite arbeiteten auch die galizischen Ukrainer an einer Verfestigung der gespaltenen Erinnerung. Sie hielten ihre eigenen Kriegserinnerungen an den «Lemberger November» lebendig und stilisierten wie ihre polnischen Landsleute die «eigenen» Opfer zu Märtyrern für die nationale Sache; sie versammelten sich zu eigenen Gedenkfeiern und Erinnerungsgottesdiensten, und ihre Publikationen neigten dazu, das großartige polnische Kulturerbe Galiziens zu ignorieren.

Glücklicherweise war die «Tyrannei des Nationalen», die Alfred Döblin beklagt hat, nicht das einzige Gesicht, das die ostgalizischen Städte dieser Zeit zeigten. Den Vorkämpfern des nationbuilding standen andere Menschen gegenüber, die Abgrenzungsstrategien ablehnten oder als unzeitgemäß verwarfen. Ihnen verdanken wir eine Reihe von bedeutenden Stadterinnerungen über Lemberg, und vielleicht bezieht sich Joseph Roth in seinem Diktum von Lemberg als der «Stadt der verwischten Grenzen» auf solche Gewährsleute.Viele Galizier empfanden den Bürgerkrieg vor allem als tragischen Bruderkrieg, der zur Identitätsstiftung denkbar ungeeignet sei. Besonders die progressiv eingestellten Intellektuellen und die Avantgarde-Künstler bewegten sich in Kreisen, in denen nach der Herkunft nicht gefragt wurde und wo das Polnische lingua franca, nicht aber zwangsverordnete alleinige Staats- und «Kultursprache» war. Sie engagierten sich in der Zwischenkriegszeit für soziale Reformen und die Aussöhnung zwischen den Bevölkerungsgruppen. Daneben gab es die Menschen, die sich grundsätzlich nicht für «Politisches» interessierten und den Krieg am liebsten vergessen wollten; sie genossen – besonders in Lemberg – die neuen Formen großstädtischer Unterhaltung, mit Kinos, Jazzlokalen, Fußballspielen oder Autorennen. Ihre Identität schien weniger im traurig-schön stilisierten Opfermut des Winters 1918/19 verkörpert als in der Welt der städtischen Unterschicht-«Milieus», die in Straßenliedern, Moritaten und Spottversen im typischen Dialekt der polnischen Ostgebiete mit seinen ukrainischen und jiddischen Einsprengseln thematisiert wurden. Dieses damals oft zitierte «fröhliche Lemberg» ist in der Zwischenkriegszeit auch über die neuen Medien Film und Radio stark popularisiert worden; im überschaubareren Przemyśl fehlt allerdings eine solche künstlerisch überhöhte und über die Stadt hinaus berühmtgewordene Milieukultur. Jedenfalls offerierte diese Kultur eine genuin urbane Identifikationsmöglichkeit für die ostgalizischen Stadtbewohner – und auch die Illusion einer heilen Welt jenseits der nationalen Grenzziehungen. Allerdings diffundierte der Patriotismus auch in die Welt des «fröhlichen Lemberg», etwa wenn in Liedern und Erinnerungen der Beitrag der Lemberger Straßenjungen (der sogenannten batiary) zur Verteidigung Lembergs thematisiert wurde.

Was wir hier sehen, ist also ein Bild der gleichzeitigen Anziehung und Abstoßung, des Voneinander-Wegwollens und Nicht-Voneinander-Loskommens auf Gedeih und Verderb. Es ist dieses Bild, das «Galizien» wesentlich geprägt hat und das wir in der Geschichte unserer beiden Städte wiederfinden, wenn wir danach suchen. Schon die Zeitgenossen, die Franzos, Roth, Wittlin und wie sie alle heißen mögen, waren von der Anhäufung von Paradoxien fasziniert, die Galizien bereithielt: Schlimmstes Elend und feudale Rückständigkeit neben glaubensinnigem Leben und überbordender Lust am Feiern. Westliche Neuerscheinungen – in den Buchhandlungen von Przemyśl oder Brody und in den Bücherschränken der Provinzeliten (oder zumindest unter den Matratzen ihrer aufbegehrenden Kinder, die Galizien lieber heute als morgen in Richtung der großen Metropolen verlassen hätten und dies oft auch taten). Provinzielle Bigotterie, Beschränktheit, Intoleranz und Kaffeehaus-Politikasterei neben kultureller Pluralität und universalen Visionen vom besseren Menschsein. Neumodische politische Unduldsamkeit neben altösterreichischem Durchwurschteln. Analphabetismus neben frappierender Literaturproduktion. Wo sonst, wenn nicht hier, war eine Künstler-Existenz möglich wie die von Bruno Schulz, der zeit seines Lebens das provinzielle Drohobycz nicht verlassen hat und eine Literatur schrieb, die genausogut hätte in Berlin oder New York entstanden sein können?

Wenn man also von der Landschaft spricht, in die unsere beiden Städte hineingestellt sind und die sie jahrhundertelang beeinflußt hat, kommt man um solche krassen Widersprüche nicht herum. Lemberg und Przemyśl waren «Grenzstädte» – insofern, als sie in einem Gebiet der vielfältigsten kulturellen Überlagerungen, Verwerfungen und gegenseitigen Beeinflussungen lagen, dort, wo die Slavia orthodoxa dem lateinischen Westen das Gesicht zuwandte. Nur verliefen die Grenzen damals wesentlich unübersichtlicher als heute, und sie waren extrem durchlässig in beide Richtungen. Sie gingen, sichtbar und weniger sichtbar, durch Städte, Kollegen- und Freundeskreise, Familien, sogar durch einzelne Biographien. Ich nenne als Beispiel hier nur den galizischen Metropoliten Andrej Šeptyc'kyj, dessen Amtsbezirk von der heutigen Grenze zweigeteilt wurde und dessen polnisch-ukrainischen Grenzgang ich in einer früheren Ausgabe von Ji (Nr. 20/2001) beschrieben habe. Solche Grenzen konnten trennend wirksam werden (siehe oben), mußten es aber nicht zwangsläufig (siehe oben!). Die Urkatastrophe Galiziens war sicherlich der Erste Weltkrieg mit seinen Folgekonflikten, die tiefe Gräben aufgerissen haben. Es können auch Vermutungen darüber angestellt werden, was ab 1939 im Land passiert wäre, wäre nicht zuvor schon die Atmosphäre zwischen Polen, Ukrainern und Juden dermaßen vergiftet gewesen, wie sie es in vielen Zusammenhängen war.

Grundsätzlich ist aber festzuhalten: Erst der Zweite Weltkrieg, der deutsche Massenmord an den Juden und die Vertreibungen der Nachkriegszeit haben das unübersichtliche und faszinierende galizische Tableau leergefegt. Die beteiligten Bevölkerungen wurden ausgelöscht oder nach «Nationszugehörigkeit» auf den jeweiligen Seiten einer real und brutal existierenden Grenze neu sortiert, das ganze als «Austausch» euphemisiert. Die paar samtenen Revolutionsjahre von 1989 bis zu den ersten EU-Osterweiterungsplänen sahen stellenweise eine Wiederauferstehung der Erinnerungen ans alte Galizien – gnadenlos nostalgisch, romantisierend, mit Kaiserbildern verbrämt und der kritischen Geschichtsschreibung ein Greuel – aber trotzdem eine Wiederkunft von Träumen, die während der bleiernen Zeit für immer ausgeträumt schienen. Keine Illusionen: Das heutige Galizien mit seinem aus der Not geborenem «Ameisenhandel», den «Ukrainerbasaren», dem kleinen und nicht so kleinen Schmuggel, großen und kleinen Spitzbuben, Menschenhändlern, Zoll- und Behördenschikanen ist kein gastlicher Ort. Gleichwohl ähnelt auch dieses Galizien dem schon einmal dagewesenen – man lese nur in Roths «Das falsche Gewicht» die Szenen, die an der alten galizisch-russischen Grenze spielen. Die Alltag des neuen Galizien ist rauh und wenig bunt. Die Tausende von Menschen, die sich monatlich auf uralten Handelsrouten auf den Weg machen, denken kaum an die Restitution alter galizischer Zusammenhänge und Denktraditionen, wenn die Arbeitslosigkeit sie treibt. Ihre Bezugspunkte sind längst auch andere, nicht mehr Lemberg, Przemyśl, Krakau und Wien, sondern mindestens genauso Kiew, wo die Politik gemacht wird und wo man um ein Visum für Nimeččyna anstehen muß, oder sogar Archangelsk und Moskau, wohin die Vettern und Cousinen vor zwei Jahrzehnten auf der Suche nach besser bezahlten Jobs auswanderten. Prag, Wien, Berlin oder auch Leipzig sind nicht mehr die Erscheinungsorte von gierig nachgefragten neuen Büchern, sondern allenfalls die Punkte in «Europa», wo Brüder, Onkel, Väter, Schwestern als Illegale auf dem Bau schaffen, Teller waschen oder Wohnungen saubermachen. Fragt man die Menschen auf beiden Seiten der Grenze, so wird man sicherlich kaum jemand finden, der sich die ethnische Gemengelage und die daraus resultierenden Konfliktlagen der Zwischenkriegszeit zurückwünschen würde. Gleichwohl läßt die nun wieder bedingt und auf Abruf offene Grenze eben auch andere Dinge und Menschen durch als Waren, Schmuggelgut und Arbeitsmigranten: Es gehen und kommen auch Bücher, Zeitungen, JournalistInnen, WissenschaftlerInnen, StudentInnen, Verwandte über drei Ecken, die sich seit Jahrzehnten nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen sehen konnten, homesick package-Touristen aus Detroit oder Wrocław. Mit Polnisch und/oder Ukrainisch kommt man auf beiden Seiten der Grenze ziemlich gut durch, jedenfalls immer noch besser als mit Russisch oder Englisch – ist das nichts? Diese neugalizische Szenerie ist, so trist und kläglich sie sich oft auch präsentieren mag, besser als das, was war, und voraussichtlich auch besser als das, was dann kommt.


Myroslaw Popowytsch

Der ukrainische Weg in die europäische Gemeinschaft

Was bedeutet Europa als politisch-kulturelles Phänomen, als ein nicht nur durch seine geographischen Gegebenheiten, sondern vor allem durch seine Geschichte geprägter Kontinent? Vielleicht erscheint es unangemessen, wenn ausgerechnet ein Mann aus Kiew diese Frage im Kreise von westeuropäischen Intellektuellen aufwirft. Aber ich weiß, dass diese Frage durchaus auch in der westeuropäischen Öffentlichkeit diskutiert wird und dass es keine einheitliche Meinung darüber gibt, was man unter “Europäischer Identität” verstehen soll. Hier, in der postsowjetischen Welt fragen wir uns immer wieder, was es heißt, Russe zu sein, oder Ukrainer, oder Jude. In Europa habe ich keine Artikel zu Thema “Was bedeutet es, Franzose zu sein, oder Engländer?” gefunden. Wie dem auch sei – auf jeden Fall muss die Frage nach einer europäischen Identität beantwortet werden, wenn wir uns mit dem Aufbau einer gesamteuropäischen Staatlichkeit und einem künftigen europäischen Patriotismus beschäftigen.

Gestatten Sie mir zunächst einen etwas allgemeinen abstrakten Exkurs: Seit dem Zusammenbruch des ökonomischen Materialismus wird in den postsowjetischen Ländern immer wieder Max Weber zitiert, vor allem sein Werk über die protestantische Ethik, welche die Ausprägung der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung in der europäischen Welt bestimmt habe. Auch wenn man Webers Grundthese über den bestimmenden Charakter der Paradigmen der geistigen Kultur – “Denkstil” nach Karl Mannheim – für die Entwicklung der wirtschaftlichen Strukturen akzeptiert, so weckt doch seine Einschätzung der Rolle des Protestantismus gewisse Zweifel. Kann man tatsächlich alles auf eine wirtschaftliche Ideologie reduzieren? Sollten wir uns nicht ebenfalls mit der europäischen Mentalität beschäftigen, die sich uns als Versuch darstellt, eine Synthese von Antike und Christentum zu finden? Europa besteht ja nicht nur aus der protestantischen Welt, jenem transalpinen germanischen Norden. Einen gewichtigen Beitrag zur Entwicklung des europäischen Kapitalismus hat schon sehr viel früher der mediterrane Süden geleistet, besonders Italien. Die lateinische Welt bewahrte ihren Humanismus in der katholische Kultur und lehnte den Protestantismus ab. Der rigide fundamentalische Protestantismus der Reformationszeit konnte zunächst keine eigene hohe Kultur herausbilden, das gelang erst, als sich der Protestantismus das Erbe der barocken Gegenreformation angeeignet hatte.

Was ist Europa? Nun – eine Ansammlung von Gebäuden, Straßen, Autos, Laboratorien, Bibliotheken, Museen, Informationssystemen, historischen Denkmälern usw. – eine Ansammlung von “Heiligen Steinen”, von Kirchen, Städten und Dörfern  des europäischen Kontinents, verbunden durch einen Sinn, der sich in den Kultur-Objekten verkörpert und der lebendig bleibt dank der ununterbrochenen Tradierung der geschichtlichen Erfahrung von Generation zu Generation. Worin besteht nun dieser historische und kulturelle Sinn, der alle Bilder Europas zusammenhält? Und wie kann er das überhaupt leisten?

Die erste grundlegende Synthese des modernen geistigen Europa war die Rennaissance, genauer gesagt: eine spezifische Ausprägung der Rennaissance – nämlich das italienische Rinascimento. Die Kultur der Rennaissance ensteht in Abgrenzung zur nicht-italienischen Kultur, die man nunmehr als “Barbaren-” bzw. “gotische” Kultur bezeichnet. Die neue Kultur des Südens wird verstanden als Wiedergeburt der “echten”, d.h. römisch-italienischen Kultur, deren Entwicklung durch die “Barbaren” (“Goten”) unterbrochen worden war (obwohl die Heimat und das Zentrum der Gotik bekanntlich nicht in Deutschland, sondern in Frankreich liegt). 

Der christliche Spiritualismus verbindet sich bei den Denkern und Künstlern der Rennaissance mit dem heidnischen Naturalismus. Die Rennaissance beginnt mit einer Reihe von parallelen Versuchen, die vergessenen Formen aus dem Erbe der Antike in den verschiedensten Bereichen wieder zu verwenden, und sie führt schließlich zu einer teifgreifenden neuen Bestimmung der Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Als Ausgangspunkt dient dazu das biblische Prinzip des Menschen als “Abbild Gottes”.  Diese Idee bleibt dann gültig sowohl für den Katholizismus als auch später für die Reformation, und sie dringt danach verstohlen auch in das östliche Christentum ein, vor allem durch die Kirchenmalerei. Die östliche Patristik-Tradition der Kirchenväter hatte die Anerkennung der Hyperausdruckskraft eines Gottes verlangt, welcher sich jenseits von Zeit, Raum und Form befindet. Diese Tradition sah nur eine funktionale Ähnlichkeit zwischen Gott und den Menschen, die sich in bestimmten geistigen Eigenschaften des Menschen äußert. Die Ideologie der Rennaissance hingegen  basierte auf den Grundsätzen des Humanismus. Die Formel “der Mensch ist Abbild Gottes” wird nun wörtlich verstanden. Ähnlich dem Judentum hat die christliche Theologie im Mittelalter eher gehört als gesehen. Die Rennaissance jedoch versucht Gott im Menschen und den Menschen in Gott anzuschauen. Man beginnt, Gott Vater als einen mächtigen Greis darzustellen. Die ganze “göttliche Idee” scheint nunmehr in die Welt des Menschen hinein zu passen.

Verlassen wir aber nun die komplizierte Sphäre der Analyse einer “europäischen Mentalität” und der Kunstphilosophie. Viel einfacher scheint das Phänomen Europa erfassbar in seiner gesellschaftlich-politischen Dimension. Kennzeichnend für Europa ist ein Wertesystem, in dem die Begriffe “Politische Demokratie”, “Marktwirtschaft” und “Nationalstaat” die wichtigsten Plätze einnehmen. Dieses Werte-System ist nun in der Tat ein ganz konkretes System von Dimensionen oder Koordinaten, nach denen man den “Abstand” jeder Nation von den europäischen Idealen messen kann.

Diese europäischen Grundwerte kann man als Ergebnis der jüngeren Geschichte bezeichnen. Denn ungeachtet der Bestrebungen der Kirche (die gelegentlich Erfolg hatten), sich über den Staat zu stülpen und eine totalitäre Theokratie zu errichten, ist der westeuropäischen Geschichte im allgemeinen eine relative Unabhängigkeit der Kirche vom Staat (und umgekehrt) eigen.  Ähnlich gestalteten sich die Beziehungen zwischen Staat und Militär einerseits und der Welt der Städte, des Handels und der Industrie andererseits. Schließlich hat sich ein System der relativen Unabhängigkeit der Staatsmacht, des Glaubens und des Geldes heraugebildet. Dies führte zur Enstehung einer sozial-kultureller Mannigfaltigkeit und einem Reichtum an ganz verschiedenartigen Informationen, was eine große Bedeutung hatte für die europäische Multi-Nationalität. Europa  als ein kulturell-politisches und wirtschaftliches System hat Selbstregulierung und Selbstverwaltung ausgebildet und dadurch in allen Bereichen die Fähigkeit zur schnellen Entwicklung von immer komplizierteren und höheren Infrastrukturen erlangt.

Natürlich sind alle europäischen Staaten immer noch weit entfernt vom Ideal der relativen Unabhängigkeit von Wirtschaft, Politik und Kirche, aber das System der idealen Koordinaten lässt sich benennen. In der Folge werden wir über die Ukraine  in Bezug auf die europäischen Werte sprechen, indem wir jede einzelne Dimension gesondert untersuchen.

Marktwirtschaft. Die Stagnation der wirtschaftlichen Produktion ist eine Erbschaft aus der Periode des “entwickelten Sozialismus”. Sie wurde offenkundig während der “Perestrojka” (in der Ukraine gab es im Jahr 1990 kein Wachstum mehr), aber in der halbstaatlichen Landwirtschaft waren die Symptome des Zusammenbruches schon seit Beginn der achziger Jahre sichtbar geworden, als die Landwirtschaft nicht nur ineffektiv, sondern auch unrentanbel wurde. Es handelt sich jedoch nicht nur um Stagnation. Die Ausmaße der Depression zwischen 1990 und 1999 sind außergewöhnlich und bestürzend. Im Jahr 1992 kam es dann zu einer schweren Krise, als die Hyperinflation und der totale Rückgang der Produktion zum Zusammenbruch der Finanz-Systeme in Russland und in der Ukraine führten. Zum Vergleich: Die Great Depression in der westlichen Welt Anfang der dreißiger Jahre führte zu einer Produktionssenkung um weniger als die Hälfte. Die ukrainische Wirtschaft hingegen reduzierte ihre Produktion um mehr als das dreifache. Das Ausmaß der Ruinierung von Produktivkräften lässt sich mit den Folgen des Krieges und der Nazi-Okkupation vergleichen: Ende des Krieges funktionierten in der Volkswirtschaft der befreiten Ukraine noch etwa 30% der Produktionskapazitäten der Vorkriegszeit. Um diese Verluste wettzumachen, hat man dann fünf Jahre gebraucht. Im Jahre 1950 wurde das Vorkriegsniveau schon wieder um 15 % überschritten. In den Jahrzehnten davor hatte die Ukraine noch schlimmere Verwüstungen erlebt: Der Erste Weltkrieg, die Revolution und der Bürgerkrieg 1917-1920 haben die ukrainischen Produktionskräfte um neun Zehntel reduziert. Doch in den Jahren 1925 und 1926, d.h. fünf, sechs Jahre später, war in der Industrie schon wieder das Vorkriegsniveau erreicht. Die Landwirtschaft kam durch die neue Wirtschaftspolitik (NEP) noch schneller auf die Beine. [1] Die heutige Situation ist sehr viel hoffnungsloser: Erstmals im letzten Jahr (2000), zehn Jahre nach Beginn der offenkundigen Stagnation, verzeichnet die postsozialistische Ukraine wieder einen Produktionszuwachs (6% nach der offiziellen Statistik). Von den Prognosen für die Erneuerung des Produktionspotenzials will ich gar nicht reden, und auch nicht vom  Durschnittsgehalt, von Renten, Arbeitslosigkeit, Proteinkonsum, Tuberkulose, von einheimischen Bettlern, exportierten Prostituierten, obdachlosen Kindern etc. Die Krise treibt das System in eine gewisse Primitivierung, Vereinfachung, Verrohung. Die größte Gefahr einer Krise besteht darin, dass sie das Differenzierungs-Niveau des Systems unumkehrbar absenkt.

Wenn wir die Gesellschaften nach der Beschäftigungsstruktur (Internationales Institut für Soziologie in Kiew) der Bevölkerung unterscheiden, können wir Entwicklungsschritte sehen von einer agrarisch-industriellen Etappe zu einer industriell-informations- und informations-industriellen Etappe. Bei den europäischen Nationen beobachtete man im letzten Jahrzehnt den Übergang von der industriell-informations-Etappe, zur informations-industriellen Etappe, in der die Produktion von Information und Informations-Dienstleistungen in den Vordergrund rückt.

 Vor zehn Jahren befand sich die Ukraine in der industriell-agrarischen Etappe. Im Laufe der zehnjährigen Reformen fand dann ein Rückschritt in die agrarisch-industrielle Etappe statt.  So waren z.B. 1990 in der Industrie 7,8 Mio Menschen (30,7% der Bevölkerung) beschäftigt, in der Landwirtschaft 5 Mio Menschen (19,7%). 1999 arbeiten in der Industrie nur noch 4,4 Mio Menschen (20,2%), aber in der Landwirtschaft 4,9 Mio Menschen (22,5%). Das veranlasst W.Chmelko von einer makrosozialen Involution zu sprechen. Für die Zukunft erwarten wir die Entstehung riesiger urbaner Zentren mit Elendsquartieren,  eine spürbare Bevölkerungsmigration in die Hafenstädte – alles haargenau wie in vergleichbaren exportorientierten Ländern mit einem schwachen Binnenmarkt, mit unentwickelten Transportstrukturen und Kommunikationssystemen. Wie jede andere Wirtschaft mit schwachem Binnenmarkt sucht die Ukraine ihr Heil im Export. Welche Probleme dabei enstehen, zeigt der Fall der ukrainischen Metallindustrie. Dieser mächtige Industriezweig arbeitet zu 80% für weitentfernte Auslandsmärkte. Und während die Metallindustrie selber nur mit Mühe über die Runden kommt, kassiert der Staat die erwirtschafteten Valuta. Es ist bekannt, auf welche Antidumpingbarrieren unser Metallexport in den westlichen Ländern stößt. Infolgedessen führt die Orientierung auf die Auslandsmärkte zum Untergang ganzer Industriezweige, die unter diesen protektionistischen Bedingungen auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig sind – dabei handelt es sich um Industriezweige von hohem technischen Niveau, gut entwickelt und durchaus auch weiter entwicklungsfähig. So werden unsere Chancen für einen baldigen Durchbruch zur  informations-industriellen Etappe immer geringer.

Fragen wir also nach den Ursachen. Liegt die strukturelle Degradierung der ukrainischen Wirtschaft etwa daran, dass es keine marktwirtschaftliche Reformen gegeben hätte? Aber was ist eigentlich damit gemeint, wenn von der Halbherzigkeit bzw. vom völligen Ausbleiben der wirtschaftlichen Reformen in der Ukraine gesprochen wird? Wenn “Markt” gleichbedeutend ist mit “freie Preisbildung”, dann fand die Preisliberalisierung in der Ukraine und in Russland parallel zu der Hyperinflation 1992-1994 statt. Wenn die “wirtschaftlichen Reformen” vor allem “Privatisierung” bedeutet, dann begann dieser Prozess in der Ukraine tatsächlich mit Verspätung und hat noch nicht den Kern der mächtigen Industrien ergriffen und auch Grund & Boden noch nicht in eine Ware verwandelt. Gleichwohl fand 1996 ein entscheidender Schub statt, und die Anzahl von privatisierten Unternehmen überstieg  30.000 Objekte – ein von Experten bestimmtes Minumum als Voraussetzung für das Entstehen eines Marktmilieus. Diese Etappe der Kleinprivatisierung war allerdings nur ein erster Schritt, weil die Objekte von den Arbeitskollektiven losgekauft wurden, ohne dass die neuen Besitzer das Recht auf Räume, Grund und Boden und Baugenehmigungen miterworben hätten. Nichtsdestotrotz ist zur Zeit der Prozess der Kleinprivatisierung abgeschlossen, die mittlere Privatisierung geht ihrem Ende entgegen, und man hat den Privatisierungsprozess von Großbetrieben, den industriellen Giganten begonnen.

In welche Richtung verändert die Privatisierung in der Ukraine die Produktion? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst noch einmal vergegenwärtigen, was ein sowjetischer Großbetrieb war.  Dies Kombinate waren dafür bestimmt, bedeutende und umfangreiche staatliche Aufträge zu erfüllen. Wenn man berücksichtigt, dass man für die Herstellung des Endproduktes unter Umständen 1000 Zulieferbetriebe brauchte, dann ist es klar, dass das Kombinat, ganz auf sich selbst gestellt, möglichst viele Hilfsbetriebe gründete, allerdings nicht selten auf einem mittelalterlichen technischen Niveau. Außerdem konnten die Großbetriebe nicht auf staatliche Finanzierung  ihrer Mitarbeiter im sozialen Bereich rechnen (Wohnungen, medizinische Betreuung, Sport- und Kindereinrichtungen) und mussten diese kostspieligen Belastungen selbst übernehmen. Derartige Großbetriebe verwendeten nur ein Drittel ihrer Finanzmittel für die Produktion, dazu noch  ein Viertel für zusätzliche und nichtspezialisierte Produktion.

Ähnliche Mängel kennzeichnen ganze Industriezweige und das ganze System.

Die Stagnation auf der Ebene der Produktion war mit der Wende nicht beendet,  denn jene schwerfälligen Industrie-Monstren erwiesen sich als unfähig, selbständig auf dem Markt zu agieren, den ihnen die Anfangs- und Teil-Liberalisierung geöffnet hatte. Die Vorstellung, es genüge, alle Akteure freizulassen und die “unsichbare Hand des Marktes” werde dann, frei nach Adam Smith, alles von selbst regulieren, entpuppte sich als Aberglauben.

Der Markt ist vor allem eine Gesamtheit von Markt-Institutionen. Während sich Russland in der Ära Gaidar geradezu hysterisch beeilte, um den Systemwandel unumkehrbar zu vollziehen, blieb die Ukraine stehen und wartete erst einmal ab, wie es beim nervösen nördlichen Nachbarn wohl laufen würde. Nach 1994 ging sie dann denselben Weg der Liberalisierung, nutzte allerdings keinerlei staatlichen Hebel, um die Betriebe auf die Marktwirtschaft vorzubereiten, schuf keine marktwirtschaftliche Institutionen und keine rechtliche Normen und kümmerte sich nicht um eine notwendige Informations- und Regierungsstruktur. Keine Rede also von einer planvollen Modernisierung der Volkswirtschaft, wie es beispielsweise die Franzosen nach dem Krieg durchgeführt haben (Monnet-Plan). Nach Ansicht ausländischer Experten liegt der Unterschied zwischen Russland und Ukraine darin, dass die rechtliche Unbestimmtheit und Nichteinhaltung der staatlichen Verpflichtungen in der Ukrainie noch schlimmer sind als in Russland, weshalb in die Ukraine gerade mal ein Prozent der Investitionen weltweit fließen.

Im Endeffekt hat sich eine Gesellschaft  mit einer großen Reserve an innerer Spannung herausgebildet, die durch die sogenannte “hohe Makrostruktur” (ein großer Abstand zwischen Arm und Reich) bedingt ist. Im Jahr 1998 verfügten 5 % der Bevölkerung in der Ukraine über 21 % aller Einkommen (zum Vergleich: in den USA verfügten während der Großen Depression 5 % der Bevölkerung über 30 % der Einkommen). Auf dem Hintergrund der allgemeinen Verarmung in der Ukraine hat die Entstehung einer derartigen Schicht von Neuen Reichen ganz schwierige sozial-psychologische Folgen.

Nach ihrer Klassenstruktur nähert sich die neue ukrainische Gesellschaft scheinbar dem europäischen Standard. In der Ukraine beträgt momentan der Anteil der Arbeitgeber 4,8 % von der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung (1991 waren es 0,1 %), der Selbständigen 13,4 % (1991 noch 0,5 %).  D.h. der Anteil der Arbeitsgeber hat sich 40mal erhöht und der Anteil der Selbständigen 27mal, will sagen: die Situation nähert sich  schon den europäischen Parametern. Allerdings unterscheidet sich die ukrainische Situation qualitativ ganz wesentlich von der europäischen.

Zwar hat die Liberalisierung in der Ukraine nicht derart mächtige und unkontrollierbare “Oligarchen” hervorgebracht wie in Russland, aber die wichtigste Quelle der Korruption ist sehr viel kompletter erhalten geblieben als in Russland, nämlich ein Staatsapparat, der den Markt beeinflusst, der durch seine Steuerpolitik Druck ausübt und die Wirtschaft offen oder heimlich je nachdem protegiert oder kontrolliert. In der Ukraine ist nicht die Figur des “Oligarchen” typisch, sondern eher die des Staatsbeamten mit unbegrenzten Einflussmöglichkeiten oder die eines Direktor-Managers, der unkontrolliert über eine riesiges Eigentum verfügt, aber keine Verantwortung als Eigentümer kennt.

Die makrosoziale Stratifizierung in der Ukraine ist seit dem Jahre 1991 ständig gestiegen und erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 1998. Laut Chmelko übertraf 1998 die Diskrepanz zwischen dem reichsten Fünftel und dem ärmsten Fünftel der Bevölkerung die Kennziffer aus der Zeit der Großen Depression in den USA: damals  betrug die Diskrepanz nach Einkommen 1:18, und in der heutigen Ukraine 1:29. (Zu Beginn des Jahrzehnts noch 1:8). Wenn man die absoluten Zahlen ins Auge fasst, erhält man eine Vorstellung davon, welches Meer von Elend sich in der Ukraine ausbreitet. Wobei die Superreichen nicht die Arbeitsgeber sind, sondern gewisse Beamten und Verwalter, die sich nicht hätten bereichern können, wenn sie nicht die Hebel der Macht in Händen hielten.

Interessanterweise ist die Kennziffer der sozialen Stratifikation unter der Regierung Juschtschenko (1999-2000) von 1:29 auf 1:10 geschrumpft. Unklar bleibt allerdings, wie es dazu kam, ob sich die Situation der Ärmsten verbessert oder die der Reichsten verschlechtert hat, oder ob beide Faktoren gewirkt haben.

Verständlicherweise stimulierte die obenbeschriebene Situation ein soziales Krankheits-Symptom, nämlich den Verlust von Grundwerten oder einer Gesetzlosigkeit, einer Anomie, wie sie Emile Durkheim beschrieben hat. Nach Angaben von Jewhen Holowacha und Natalija Panina, war in der frühen Periode der Perestrojka die allgemeine Stimmung der ukrainischen Bevölkerung noch eher optimistisch, aber nach 1991 gaben 85 % der Bevölkerung an, dass es ihnen an den elementaren Existenzbedingungen mangle – Arbeit, Wohnung, Sozialversicherung etc. Das würde bedeuten, dass man die Empfindung für die moralische Seite der Ereignisse verloren hatte, als ob einem der Schmerz abhanden gekommen sei. Das einzige, was uns von einer solchen Beurteilung der Lage abhält, ist die Tatsache, dass trotz alledem die Mehrheit der Bevölkerung wenn auch nicht gerade optimistisch, so doch immerhin mit einer Hoffnung auf Besserung lebt.

Die Wiederkehr von etatistisch-sozialistischen Tendenzen oder des Geistes des Autoritarismus ist nicht nur der Zählebigkeit von kommunistischen Vorurteilen geschuldet, sondern zeigt eine zweite neue Welle an, die aus der tiefen Krise ins Leben gerufen wurde. 

Politische Entwicklung zur Demokratie. In dieser Hinsicht sieht die Situation in der Ukraine gar nicht so schlecht aus. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes auf dem Territorium des ehemaligen Sowjetunion  entstanden eine ganze Reihe von Präsidial-Republiken – ganz ähnlich dem Caudillismo in Lateinamerika nach dem Zusammenbruch der spanischen und portuguisischen Kolonialherrschft. Natürlich kann man die Ukraine nicht mit den ehemaligen asiatischen Sowjet-Republiken gleichsetzen. Die Staaten mit dem Kult eines “Vaters der Nation” und Präsidenten auf Lebenszeit befinden sich nach demokratischen Maßstäben auf einem noch niedrigeren Niveau als die kommunistischen Regimes der letzten Jahrzehnte. Die Ukraine bleibt, Gott sei Dank, noch demokratisch. Gleichwohl – die Prozesse, die derzeit hierzulande stattfinden, geben Anlass zu ernstlicher Beunruhigung.

Am nächsten steht uns nach wie vor das russische Schema, nach dem die politische Prozesse ablaufen. In Russland verfügt der Präsident über eine sehr große Macht, die sich aus dem System “Regierung-Opposition“ heraus entwickelt hat, und das Resultat ist für beide Seiten von Vorteil: die präsidiale Machtstruktur stützt sich auf die Präsidenten-Administration, und die Administration stützt sich politisch auf die populäre Angst vor einer Rückkehr der Kommunisten. Die Kommunisten ihrerseits haben kein effektives Aktionsprogramm und streben auch nicht unbedingt an die Macht – die “Opposition seiner Majestät“ zu spielen ist ihnen genug. Die kleinen politischen Gruppen können weder mit der Regierungsbürokratie noch mit der kommunistischen Opposition konkurrieren. Doch braucht die Administration und die ganze Staatsbürokratie eine massive politische Stütze und bildet also immer wieder aufs Neue eine sogenannte “Partei der Macht”, die funktional an das polnische autoritäre System der Vorkriegszeit erinnert. Zunächst sahen wir als “Partei der Macht” Jelzins Stütze, «Íàø äîì - Ðîññèÿ» (Unser Haus – Russland); in der letzten Zeit hat diese Rolle Putins Stütze, die Partei «Åäèíñòâî» (“Einheitlichkeit”) übernommen. Die präsidiale Macht in Russland hat den politischen Parteien ihre Kraft demonstriert, indem sie für kurze Zeit ganz mühelos den Kontakt zu den Kommunisten aufnahm und somit jeglichen Protest im Parlament eliminierte. Da die meisten Oligarchenclans sich mit der Administration gut verstehen, kann man die erwähnte Episode der Strukturierung des neugewählten Parlaments als eine paradoxe “kommunistisch-oligarchische Union” betrachten. Tatsächlich war es keine richtige Union, da beide Seiten nur ein Ziel hatten, nämlich die Besetzung der politischen Vorderbühne mit den zwei wichtigsten politischen Akteuren, und zwar solange, bis einer der beiden das Monopol gewonnen hätte.

Diese Konstellation erinnert an das rührende Schauspiel, als in Kiew Kommunisten und Oligarchen ihre Gemeinsamkeit demonstrierten und zuerst den Rücktritt des Bundesanwalts, dann des Ministerpräsidenten Wiktor Juschtschenko erzwangen. Während der Wahlkämpfe erleben wir in der Ukraine und in Russland immer dasselbe Szenario: die abschliessende TV-Wahlrunde setzt sich zusammen aus Vertretern der “Partei der Macht” und der Kommunisten. Damit ist das Problem gelöst. Die Kommunisten begnügen sich mit dem Etikett “unversöhnliche Anwälte der verelendenden Massen” und mit Platz zwei – als Partei, mit der die Regierung verhandeln muss. Und so kann es denn auch letztendlich immer zu einem Konsens  zwischen der “Partei der Macht” und  der kommunistischen “Opposition” kommen .

Hier hört aber die Parallele zu Russland auf.

Russland versucht krampfhaft, den in Belowezh begonnenen Zusammenbruch des Imperiums aufzuhalten. In Russland bezieht sich die “Partei der Macht” ideologisch auf die großrussische Nostalgiegefühle einerseits und andererseits auf den Wunsch nach radikalen Reformen mit autoritären Methoden à la Pinochet. Beide Ideologien schließen sich keineswegs aus. Deshalb kann sich Putin gleichzeitig auf den FSB (Sicherheitsdienst), auf agressive russische Nationalisten, zynische Oligarchen und Reformpolitiker wie Tschubajs stützen. Die russischen Kommunisten halten nicht weniger agressiv als die “Partei der Macht” an der Ideologie des verlorenen Imperiums UdSSR fest, das inzwischen eine nationalistische großrussische Färbung angenommen hat. Der Krieg in Tschetschenien brachte jene fürchterlichen terroristischen Attentate und vereinte danach die Nation unter der Parole «ìî÷èòü èõ â ñîðòèðàõ» („Dich piss ich noch im Abort an die Wand!“) -  wobei unklar bleibt, wer denn überhaupt dergestalt festgenagelt werden soll und wie man ihn findet – Hauptsache: es gibt Aborte für Soldaten.

Russland ist, wie man bei uns zu sagen pflegte, ein Land der Kontraste. Fast das gesamte intellektuelle, wissenschaftliche, technische Potenzial Russlands konzentriert sich in Moskau, ebenso das Kapital (ca. 80%). Moskau ist das geistige und politische Zentrum des Staates, das Niveau der metropolitanen politischer Kultur ist nicht zu vergleichen mit dem in Tomsk, Wladiwostock, Krasnodar oder Kineschma, geschweige denn mit den weit abgelegenen Provinzen. Die rückständige und primitive, vernachlässigte und unglückliche Provinz macht Druck von unten auf die politische Elite und vereinfacht die Algorithmic Language des politischen Lebens. Andererseits kommen die Proteste der demokratischen Öffentlichkeit kaum über die Stadtgrenzen Moskaus oder anderer großer Zentren hinaus. 

Die Ukraine ist ebenfalls ein Land der Kontraste. Der Abstand zwischen Kiew und Zhmerynka oder Konotop bleibt kolossal, was eigentlich eher für arme Zivilisationen in der Dritten Welt typisch ist. In Kiew konzentriert sich nach verschiedenen Angaben ca 60% des ukrainischen Kapitals. Die Distanz zwischen den Zentren und der Peripherie ist nicht so gravierend wie in Russland, aber die Konzentration des kulturell-politischen Potenzials ist auch andersartig. Der Unterschied zwischen unseren und den russischen Oligarchen liegt darin, wie man oft ironisch anmerkt, dass die russischen Oligarchen Geld haben. Die unsrigen haben natürlich auch Geld, aber nicht so viel, sie sind vom Staat, vom staatlichen “Dach” abhängig.

Aber der wichtigste Unterschied liegt in der Ideologie. Die ukrainische Partei der Macht und die “linke Opposition” haben keine Großmacht-Fantasien wie in Russland. Diejenigen, denen es heute schlechter geht als unter der Sowjetmacht (davon gibt es genug, sowohl in der Ukraine als auch in Russland) richten ihre Wut nicht gegen «Schwarzhemden» und weiß Gott wen, auch nicht gegen die als Abzocker verachteten  «Demokraten», sondern unmittelbar gegen die Macht selbst, allenfalls noch gelegentlich und erkennbar verspätet gegen eine imaginäre “Ruch”, die an allem Unglück schuld sein soll. In Russland lassen sich sowohl Regierung wie Opposition von den verklärten Erinnerungen an die Weltmacht UdSSR inspirieren, bei uns ist so etwas nicht möglich. Die kommunistische Opposition kann nicht mit den ukrainischen Nationalisten zusammengehen, nur die “Partei der Macht” kann es, wenn es ihr bei Gelegenheit opportun erscheint. Koltschak und Denikin und der ganze Bürgerkrieg zwischen Weißen und Roten – das ist lange her und spielt keine Rolle mehr, aber der Krieg in den Wäldern Wolhynien fand noch zu Lebzeiten der ukrainischen Rentner statt, die heute kommunistisch wählen. Niemals werden sich die Patrioten von MWD (Innenministerium)  mit den UPA-Patrioten versöhnen können. “Die Partei der Macht” ist blau-gelb (nach außen jedenfalls), die Kommunisten sind rot (ebenfalls nach außen), infolgedessen binden sie vollkommen unterschiedliche, ideologisch entgegengesetzte Wählergruppen.

Diese Umstände machen den Wahlkampf und die parlamentarischen Bündnisse in der Ukraine viel zynischer und vulgärer als in Russland. Die Juschtschenko-Regierung wurde mit vereinten Kräften von den politischen Gruppen der “Oligarchen”, die angeblich den Präsidenten unterstützten, und der kommunistischen “Opposition” zum Rücktritt gezwungen. An dieser Initiative nahmen die Sozialdemokraten (o) teil, die Partei von Olexander Wolkow, sowie andere parlamentarische verlängerte Arme der Finanzwelt. Und die unerschütterlichen Marxisten-Leninisten, die sich bekanntlich selbst am besten bedient hatten, schrien in allerschönster Empörung: „Haltet den Dieb!“

Man kann Juschtschenko bemitleiden, man kann ihn als Politiker mehr oder weniger schätzen, aber es ist doch keineswegs normal, dass man einen Ministerpräsidenten zum Rücktritt zwingt, nur weil er sich mit den parlamentarischen Gruppen der Finanzwelt nicht “verständigen konnte”. Und diese Nicht-Verständigung bezog sich noch nicht einmal auf programmatische, sondern nur auf Personalfragen!  Niemand zweifelte an der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Kompetenz der Juschtschenko-Regierung. Und wenn dann ein ernsthafter Anwärter auf einen hohen Staatsposten im Fernsehen erklärt, dass die Juschtschenko-Regierung alle Erfolge der hervorragenden langjährigen Politik des Präsidenten verdanke, während sie an allen Misserfolgen selber schuld sei, dann macht das Ganze auf das Publikum einen ziemlich deprimierenden Eindruck. Man weiß nicht, welche Reaktion sich dieser Redner erhoffte, Beifall vom Publikum oder von der “Partei der Macht” -  vermutlich doch eher Applaus von der “Partei der Macht”.

Die Demokratie in der Ukraine wurde geboren im Schoß des erschöpften und verfallenen kommunistischen Regimes, aus seiner Materie, aus seinen Vorausetzungen und Standards des Denkens und Handels. 

Die Parolen “Freiheit und Demokratie” gehören nicht zu den populärsten, und an der Pressefreiheit ist anscheinend sowieso nur die Intelligenz interessiert. Die Masse neigt eher zur “Law and Order”-Parole. Doch ist die gegenwärtige Situation in unserem Land und in Russland ein Beweis dafür, dass es gleichwohl unerwartete Sympathien der breiten Masse für eine Oppositionsbewegung geben kann, die für die demokratischen Freiheiten eintritt. In Russland erhielt der Kampf des Fernsehsenders NTV um seine Existenz eine unverhofft breite Unterstützung oder zumindest Sympathie (nach Umfragen sympathisierte mit dieser Gruppe von unabhängigen Journalisten etwa ein Drittel der Bevölkerung, selbst in der tiefsten Provinz). Und ich behaupte, dass unsere jüngste Oppositionsbewegung in der Ukraine eine gemeinsame Wurzel hat mit den Aktionen für NTV in Russland. Nicht zufällig rückte der Fall Gongadze ins Zentrum der Unruhe. In unserer Situation wurde die Frage der demokratischen Freiheiten unerwartet akut, und es hat die einfachen Leute genauso berührt wie es wirtschaftlichen Fragen tun.

Demokratie – das sind nicht nur Wahlen, Zeitungen, unabhängiges Fernsehen, das ist vor allem ein politischer und rechtlicher Raum, d.h. ein System, das jedem Bürger die Möglichkeit gibt, seine Rechte zu schützen. Die kommunistische Ordnung war nicht auf die Verteidigung der Bürgerrechte gegen die agressive Staatsmacht orientiert, zudem war sie in den  letzten zwei Jahrzehnten sehr korrumpiert. Aber es gab gleichwohl ein staatliches Machtsystem mit gewissen Schutzmechanismen gegen die Korruption und sogar in einem bestimmten Rahmen und unter bestimmten Bedingungen Mechanismen zum Schutz der Bürger. Heute sind alle alten Mechanismen im Stile von “Gerechtigkeit durch das Rayon-Partei-Komitee” ruiniert, und die neuen befinden sich erst im Aufbau. Die Unzufriedenheit der Europäer mit dem Zustand der ukrainischen Demokratie resultiert nicht aus dem bösen Willen irgenwelcher anti-ukrainischer Kräfte, sondern aus der Tatsache, dass der sogenannte Kleine Mann bei uns keinen wirklichen Schutz genießt, am europäischen Standard gemessen. Womit man es auch immer zu tun hat – Polizei, Verkehrspolizei, Finanzamt, Gericht, Staatsanwalt – alles hängt davon ab, ob man in diesen Machtstrukturen auf einen anständigen Menschen trifft oder auf einen Halunken.  

Aus diesem Grunde finden wir sowohl Rechte als auch Linke in der heutigen Oppositionsbewegung. Und obwohl ihre Gegner darauf verächtlich anspielen, scheint mir und den meisten Menschen die Nachbarschaft von Julia Tymoschenko mit Stepan Chmara und Olexander Moroz viel natürlicher, als die Nachbarschaft der Herren Wolkow und Surkis zu den Genossen Symonenko und Kriutschkow, die mir ganz unnatürlich vorkommt oder gar zynisch. 

Die Enstehung einer Oppositionsbewegung, die auf den  Schutz der Rechte und Freiheiten des “Kleinen Mannes” fokussiert  ist, macht die Aufgabe der Machtpartei komplizierter, weil nunmehr die Achillesferse der aktuellen ukrainischen Staatlichkeit ins Fadenkreuz der Kritik gerät – der klägliche Zustand unserer demokratischen Institutionen. Unseren Bürgern und der europäischen Öffentlichkeit ist dieses Problem aufgefallen, die Autoren zahlreicher Texte über “den Ausbau des Staates” scheinen es noch nicht bemerkt haben.

Ukrainischer “Nationalstaat” (nation-state). Das Problem der Bewahrung unserer nationalen Unabhängigkeit scheint wieder akut zu werden. Es gibt gewisse Anzeichen, die Veränderungen der politischen Geographie im Parlament und in der Gesellschaft ankündigen. Was die westliche Welt dabei vorrangig beunruhigt, ist die Frage, ob sich die Ukraine wieder von Russland in die Arme schließen lassen wird oder nicht. Eigentlich sollte diese Frage auch einen Durchschnitts-Ukrainer beunruhigen, denn eine kommunistische Regierung wird man wieder los, sie würde früher oder später von einer antikommunistischen abgelöst werden, und die Wirtschaft wird sich letzen Endes auch aus der Schuldenfalle befreien, aber wenn die Ukraine ihre Unabhängigkeit verliert, dann verliert sie diese für immer.

Ähnliche Probleme haben alle postimperiale Nationalstaaten. So war beispielsweise für die Nationen, die zum Habsburger-Reich gehörten, Deutsch die allgemein gebräuchliche Kultursprache. Die österreichisch-deutsche Kultur war eine Koine-Kultur. Genauso wurde die russische Kultur in Russland vor und nach der Revolution nicht nur von Russen gestaltet und genutzt, sie war eine Koine-Kultur für das gesamte Imperium. Für die nationale “ Peripherie” blieb entweder Kultur von ethnographischen Realitäten, oder eine Mischung von lokalen nationalen und russischen (nach der Sprache und Enstehungsort) Kulturschichten.

Selbst die Rede von der “Herausbildung politischer Nationen” nach westlichem Muster zeugt von einem Missverständnis, schon in den Begriffen. Wir auf der einen Seite und Europa (nebst USA) auf der anderen sprechen nicht dieselbe Sprache. Wo die Europäer und die Amerikaner über die Multi-Kulturalität der amerikanischen bzw. der deutschen Nation reden, sprechen wir von einer Multi-Nationalität einer Volkskultur.

Diese  Begriffsverwirrung ist darauf zurückzuführen, dass der Begriff “Nation”   im Westen an die Entstehung der Demokratien gebunden wird, d.h. an die Entstehung der demokratischen Regimes, in denen der souveräne Wille des Volkes (Nation) und nicht der Willes des Monarchen “von Gottes Gnaden”  als Quelle der legitimen Macht angesehen wird. Dergestalt weist der (politische) Begriff der Nation auf den Ursprung der politischen Macht (“alle Macht geht vom Volke aus”), ohne dass ein ethnischer Charakter der “Nation-Volkes” behauptet wird. Da es nun aber gleichwohl Unterschiede beispielsweise zwischen den “politischen”  Franzosen gibt – ethnische Franzosen, ethnischen Araber, Sengalesen etc. – entstehen neue Missverständnisse auch hier, die mit dem Begriff der “Multi-Kultur” abgefangen werden sollen. 

Die Doppeldeutigkeit der Situation wird verständlicher im Lichte der von Ferdinand Tönnies vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen «Gemeinschaft» und «Gesellschaft». Als eine organische Gemeinschaft verfügt ein Ethnos über kulturelle Wurzeln und ist etwas Einheitliches, in seiner eigenen Vorstellung bedingt durch die gemeinsame Abstammung vom seinen Vorvätern/Ahnen. Dabei handelt es sich zwar um eine kulturelle Illusion, aber die Tatasache des Einheitlichkeit ist erkennbar. Als eine formale soziale Struktur ist Gesellschaft hingegen etwas ganz bestimmtes, hat einen Rahmen und soziale Institution, ist nation-state, eigentlich nicht  “Nationalstaat”, sondern “Nation-Staat”. Und da hier das Ganze nicht die Summe der Teile ist, so entspricht auch Ethnos-Nation nicht dem Nation-Staat und kann nicht in die “politische Nation” verwandelt werden.

Wir brauchen nun hier keine theoretische und terminologische Diskussionen führen, aber wir können immerhin feststellen, dass die Bestrebung, eine “politische Nation der Ukrainer” aufzubauen, sich in sehr unterschiedlicher Gestalt manifestieren kann. Einmal kann man versuchen, die nationale Einheit aufgrund der ethnischen kulturellen Einheitlichkeit der Ukrainer zu finden, und hier wird dann auch das Problem der Bestätigung der ukrainischen Sprache symbolisch-politisch aufgeladen. Im Rahmen dieser Perspektive hat sich eine Einigungs-Formel herausgebildet, die vor allem die ethnischen Ukrainer als einen “Kern” der politischen Nation versteht, um den herum sich die Nation als Ganzes vereinigen kann.

Zum anderen kann als Grund für die Vereinigung der Bevölkerung um ein staatliches Ideal auch eine ganz andere, empirisch konstatierte und formal bestimmte Strukturbasis genannt werden.

Um die Situation klarer zu sehen, schauen wir vergleichend auf ein anderes Land mit den Farben Blau und Gelb, das fast gleichzeitig die Schwelle von  einem agrarischen zu einem agrarisch-industriellen Land überschritt. Ich meine Schweden, noch vor kurzem ein sehr armes Land mit begrenzten Ressourcen,  heute für uns ein Objekt der Eifersucht. Den Durchbruch schaffte Schweden in den dreißiger Jahren, als man vom Klassenkampf zum System der Klassen-Partnerschaft überging. Die linken und die rechten politischen Parteien in Schweden fanden immer wieder eine Übereinkunft in außenpolitischen Fragen. Die Politik der Kompromisse war deshalb möglich, weil alle Seiten sich auf ein nationales Interesse aller Schweden festgelegt hatten.  

Mit wechselndem Erfolg trug die schwedische Gesellschaft ihre Kämpfe zwischen den verschiedenen Positionen aus, es ging um Marktwirtschaft und staatliche Regulierung, um Verfassungs- und andere Reformen, um das Bildungs- und Rentenversicherungssystem, aber alle Akteure blieben dabei gleichberechtigte Partner – Linke und Rechte, sogar Kommunisten – sie standen auf der Grundlage gemeinsamer gesellschaftlicher Aufgaben.

Uns dagegen fehlt noch ein klar artikuliertes ukrainisches Nationalinteresse, das eine Grundlage für Vereinbarungen sein könnte. Die ukrainischen politischen Parteien müssen ihr eigenes Verständnis der ukrainischen politischen Nation als eines Ganzen erst noch herausbilden, erst dann können sie auf dieser Basis diskutieren, welche der vorgeschlagenen nationalen Projekte am besten den Erwartungen der sozialen Gruppen entsprechen, die für die jeweilige Partei stimmen. Natürlich kann die Partei, die nur an angeblich glückliche sowjetische Zeiten erinnert, nicht als eine linke oder rechte gelten – sie ist einfach eine politische Leiche, allerdings eine lebende Leiche, leider.

Darin liegt das eigentliche Problem der “nationalen Idee”, von der man so viel redet, und um deretwillen so viele Seufzer ausgestoßen werden. Die Suche nach einer “nationalen Idee”, die nur an die Gemeinschaft appelliert, hat keine politische Perspektive, denn Politik handelt mit Strukturen. Die nationale Idee als ein Kultur-Phänomen sollte außerhalb des politischen Kampfes gesucht werden. Die Ukraine muss ihre politische Orientierung bestimmen und entscheiden, wo ihr allgemeines nationales Interesse liegt – im europäischen Raum oder im eurasiatischen, als militärisch-politisches und Zivilisations-Zentrum, das, wenn nicht mit den USA, dann doch zumindest mit Europa konkurrieren kann. In dieser Hinsicht hat die Ukraine eine bessere Ausgangsposition als Russland, da sie nicht unter dem Phantomschmerz des verlorenen Imperiums leidet.  

Abschließend möchte ich doch noch anmerken, dass eine Diskussion über die kulturellen Fundamente Europas, über das Wesen der Renaissance und die protestantische Ethik, ja, auch über die Frage, ob der Mensch ein Abbild Gottes sei, dass also derlei Nachdenken gar nicht so abstrakt-philosophisch sein muss.

Hinter dem marxistischen Glauben stand die als letzte Wissenschaft missverstandene Überzeugung, dass der Sozialismus die einzige Antriebskraft, die einzige gesellschaftliche Klasse, ja, die einzige unbestreitbar objektive Notwendigkeit gefunden habe, die sich einen Weg durch die Geschichte bahnen würde und der man sich bewusst anschließen sollte. Eine derartige Doktrin konnte sich in Europa nicht lange behaupten. Dem realen europäischen Leben liegt näher das Spiel, das riesige strategische Gewinne aber auch fürchterliche Niederlagen möglich macht. Der Mensch kann den Lauf der Geschichte ändern, zum Glück oder Unglück für andere Menschen.

Sowohl diese von den Liberalen geerbte indidualistische Überzeugung, als auch der moderne europäische Sozialismus haben keine revolutionäre oder Klassen-Orientierung, sondern eine liberale und ethische Orientierung. Die mühsame Suche großer Geister im Lauf der europäischen Zivilisation waren auf die Begründung von Idealen gerichtet, die zu Grundwerten in Politik, Moral und Recht werden könnten. Ein derartiger Grundwert kann die Menschenwürde sein. Die Gesellschaft sollte so geordnet sein, dass keine Armut herrscht und dass keines ihrer Mitglieder in seiner Menschenwürde verletzt und seiner Menschenrechte beraubt wird.  

Die Diskussion über die theoretische Grundlagen einer Doktrin können Wissenschaftler führen, auch wenn sie nach völlig verschiedenen Methoden arbeiten, und was die Politik betrifft, so können Menschen ganz unterschiedlicher Überzeugungen und Glaubensrichtungen eine gemeinsame Sprache finden, wenn sie bestimmte gemeinsame menschliche Werte teilen. Die Achtung der Menschenwürde, der Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität kann bei dem einem seinen marxistischen Überzeugungen entspringen, und bei anderen ihren christlichen, jüdischen oder islamischen, und alle können sie sich problemlos in einem politischen Lager mit einem seiner wissenschaftlichen Denkweise verpflichteten Humanisten finden. Wer aber menschliches Leben leichtfertig einer politischen Doktrin opfert, der befindet sich außerhalb. Darin liegt, meiner Meinung nach, die höchte Errungenschaft des geistigen Europa.


[1] Äèâ. Óêðà¿íñüêà ðàäÿíñüêà åíöèêëîïåä³ÿ, ò.11, ñ. 164, 165.


Zdzisław Najder

Der Weg der Ukraine nach Europa

1.  Zufälligerweise sprechen nun hier zwei Philosophen nacheinander – ich habe ebenfalls in Philosophie promoviert. Ich verstehe mich selbst als Schüler des logischen Positivismus der Lemberg/Warschauer Schule. Infolgedessen werde ich nun an die mehr generalisierenden Bemerkungen von Professor Myroslaw Popowytsch mit Anmerkungen anschließen, die etwas nüchterner und konkreter ausfallen.

2.  Und Herrn Cohn-Bendit’s Ausführungen folgend füge ich hinzu, dass der Anspruch der Ukraine, nicht nur im geographischen Sinne als «europäisch» anerkannt zu werden, auf ihrer Differenz zu Russland beruht.

3.  Unter diesem Gesichtspunkt müsste dann Professor Popowytsch’s These, dass die Wurzeln der europäischen kulturellen Identität in der Renaissance gegründet wurden, weiter vertieft werden: Die Ukraine nahm teil an der Renaissance – und später auch an Reformation und Gegenreformation, aber Russland nicht.

4.  Man könnte nun weitergehen und sagen, dass Europas Wurzeln noch tiefer in die Vergangenheit reichen. Eines der hervorstechenden Merkmale für die typisch europäische Sozialstruktur war die urbane Selbstverwaltung. Sie entstand im Mittelalter, kam aus Deutschland in das ethnische Polen und verbreitete sich dann gerade so weit, wie das multinationale polnische Commonwealth reichte – aber nicht darüber hinaus.

5.  Unter den Konferenzunterlagen, die uns die Veranstalter zur Verfügung gestellt haben, fand ich einen weiteren philosophischen Text: von Leszek Kolakowski. Ich muss sagen, ich mag ihn überhaupt nicht. Er ist voller Unklarheiten, wenn nicht gar alarmistisch; und ist außerordentlich abstrakt. Überhaupt nicht im Geiste der Lemberg/Warschauer Schule! Wenn mein Kollege über die Europäische Gemeinschaft spricht, erwähnt er keine einzige Institution. Aber die gegenwärtige europäische Kohäsion beruht nicht auf gutem Willen und Versprechungen, sondern auf  Institutionen. Die Gründer der Europäischen Einheit wussten, was sie taten: mit der ursprünglichen Montanunion (EGKS) haben sie ein solides Fundament gelegt – das jeden künftigen internen bewaffneten Konflikt unmöglich machte.

6.  Somit können wir das Thema «Die Wege der Ukraine nach Europa» auf zwei Ebenen behandeln: auf der Ebene (1) der historischen Argumente und der  intellektuellen Kompatibilität, und (2) der notwendigen Institutionen.

  6.1  Ein Bewusstsein davon, was historisch der gemeinsame Grund zwischen der Ukraine und Europa ist (ich erwähnte die Renaissance als Beispiel), muss entwickelt werden.

  6.2  Um in den Augen der Mitglieder und Beitrittskandidaten Vertrauenswürdigkeit zu beweisen, um sie zu überzeugen, dass die Ukrainer ernst genommen werden können in ihrer «Europäischen Option», benötigt die Ukraine grundlegende Institutionen: wirkliche politische Parteien, Gesetze, die die Fragen des Eigentums regeln, eine unabhängige Justiz, eine organisierte Öffentliche Meinung; Elemente also, die summarisch zusammengefasst werden unter dem Begriff «Zivilgesellschaft».

7.  Ich habe nun etwas ausführlicher über den Weg der Ukraine nach Europa in einem theoretischen Sinne gesprochen, über intellektuelle und institutionelle Erfordernisse. Aber da gibt es ja noch einen praktischen, empirischen, sogar physischen Aspekt: Die europäische Nachbarschaft der Ukraine.

8.  Ich verkenne keineswegs die Schwierigkeiten und Komplexitäten der ukrainisch-polnischen Beziehungen. Aber ich gebe zu bedenken: die Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen ist nicht weniger dramatisch und nicht weniger konfliktbeladen. Polen verleibte sich nach 1945 einen großen Brocken ethnisch deutschen Territoriums ein. Aber ohne die deutsch-polnische Aussöhnung wäre Polens Mitgliedschaft in der NATO unmöglich. Und so kommt auch unsere Kandidatur für die Union zustande. Deutschland ist nun unser wichtigster Anwalt was die Mitgliedschaft betrifft. Lassen Sie uns also diesem Beispiel folgen. Polen ist der natürliche und entschiedenste westliche Partner der Ukraine.

9.  Und wir müssen nicht unbedingt nach Italien gehen, um einen gemeinsamen europäischen Grund und eine gemeinsame Tradition zu finden: ein Blick über den San zum anderen Ufer genügt. Wir teilen nämlich einen bedeutenden Teil unserer Geschichte, und diese gemeinsame Vergangenheit ist das beste Material, um den Weg der Ukraine nach Europa zu pflastern.


Tarasjuk, Erler, Cohn-Bendit

Im «Presseclub III»

Auszüge aus «Presseclub III» am 24.Mai 2001 im «Roten Saal».
Auf dem Podium: Borys Tarasjuk (Kiew), vormals Außenminister der Ukraine, Gernot Erler (Freiburg/Berlin), MdB und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD, Daniel Cohn-Bendit (Frankfurt/Brüssel), MdEP, Fraktion der Grünen, und als Gastgeber Taras Woznjak (Lwiw).

( ... )

Borys Tarasjuk

   Wir haben gesehen, dass die Europäische Union nicht gleich Europa ist, und dass die Ukraine zu Europa gehört. Aber in welchem Verhältnis stehen die europäischen Ziele zum nationalen Interesse der Ukraine? Die EU wird im Europa der Nachkriegszeit und der Zeit nach dem Kalten Krieg als ein Gebilde betrachtet, dessen Ziele es sind, die demokratischen Werte zu entwickeln und diese gegen alle Bedrohungen und Angriffe zu schützen. Angesichts dieser Tatsache sehen wir, dass alle Versuche des Kreml, die GUS mit der EU zu vergleichen bzw. GUS und EU auf eine Stufe zu stellen, scheitern müssen. Denn die Prinzipien, auf denen die EU gründet, sind mit denen dieses Null-Gebildes GUS überhaupt nicht vergleichbar. Und folgerichtig streben die sogenannten «postsowjetischen» Länder die Mitgliedschaft in der EU an und nicht eine Verbesserung der GUS. Und wenn wir Ukrainer uns Sorgen machen um unsere Zukunft, um die Zukunft unserer Kinder und Enkel, dann muss uns voll bewusst sein, dass unser Platz an der Seite des vereinigten Europa ist, d.h. an der Seite der EU. Über siebzig Jahre lang versuchte man uns Ukrainer an die Realisierbarkeit eines Märchens glauben zu machen, einer Fata Morgana – des Kommunismus.Während die Europäische Union in der Realität schon bewiesen hat, dass sie ihren Bürgern ein blühendes Leben sichern kann. Deshalb meine ich, dass die Zusammenarbeit mit der EU, dass unser Streben in Richtung Europäische Union in unserem nationalen Interesse liegt.

Ludwig Mehlhorn (Berlin)

( ... ) Ich möchte gern einmal von der großen Geopolitik weg, und weg von den langen kulturgeschichtlichen Linien – mir ist in diesen Tagen, da ich hier bin, klar geworden, dass wir uns in einer wirklich zentralen europäischen Region befinden, man spürt das auf Schritt und Tritt, durch die Atmosphäre dieser Stadt Lemberg, und gestern hat mir ein Satz von Veronika Wendland diesen Sachverhalt noch einmal deutlich vor Augen geführt, als sie sagte, dass dies hier die Region sei, wo das östliche Christentum sein Gesicht dem lateinischen zuwendet. Gut, der Grundton dieser Konferenz wird bestimmt von der Sorge, diese Region könnte ausgesperrt werden aus Europa, aber wenn man diese andere, die kulturelle Linie sieht, weiß ich: das hier ist ein Zentrum, keine Peripherie. Ich wünsche den Bewohnern dieser Stadt Selbstbewusstsein, dass sie wissen, sie sind Zentrum und nicht Peripherie, und wenn der Papst kommt, sollte er das unterstreichen. ( ... ) Mich interessiert, was unsere Gastgeber hier sich von diesem Papstbesuch erwarten. Er wird natürlich keine politischen Aussagen machen, aber der Besuch wird doch irgend eine politische Bedeutung haben.

Borys Tarasjuk

Der Papst wird die Hauptstadt der Ukraine und die Hauptstadt Galiziens besuchen, also werden Sie aus diesen beiden Städten Antworten bekommen. Der Besuch des Oberhauptes des Vaticans in der Ukraine hat erstens den Rang eines Staatsbesuchs, und er findet überhaupt zum ersten Mal statt. Er hat zweitens eine ökumenische Dimension und eine besondere Bedeutung für die Bürger der Ukraine und einiger Nachbarländer, die der römisch-katholischen Kirche angehören. Und drittens wird dieser Besuch natürlich die Einheit aller Christen betonen. Und viertens kann dieser Besuch auch ein positves Signal setzen für die orthodoxen Kirchen in der Ukraine, und zwar für die Kirchenobehäupter von drei orthodoxen Kirchen in der Ukraine, ein Ansporn, sich zu vereinigen.

Taras Woznjak

Ich betrachte diesen Besuch durch eine lwiwer Brille, oder vielleicht durch eine galizische – Sie sehen, auch zwischen Ukrainern gibt es gewisse Unterschiede. Für die griechisch-katholische Kirche ist der Besuch des Papstes in Lwiw ein ganz außerordentliches, ich würde sagen ein metaphysisches Ereignis. Diese Kirche – verboten, zerschlagen, totgesagt – diese Kirche erlebt nach ihrer Wiederauferstehung diesen Besuch! Ich weiß nicht, ob alle wissen, welche Bedeutung hier in Galizien die Metropoliten der griechisch-katholischen Kirche immer hatten, als Sprecher der ukrainischen Nation, gerade weil es keinen ukrainischen Staat gegeben hat, keine andere politische Kraft.... Aber das Wichtigste ist, dass uns eine hervorragende Persönlichkeit besucht, ein bedeutender Mensch mit einer großen Seele.

N.N. (Journalist aus Lwiw)

Ich möchte diese galizische Linie fortsetzen, die Taras angefangen hat. Ich erinnere noch, vor zehn Jahren, 1991, da sagte der Papst zu uns in Przemysl: «Wir sehen uns dann nächstes Jahr in Lwiw!» – Aus einem Jahr sind zehn geworden, und wir wünschen uns nichts anderes, als dass es wirklich klappt, dass er wirklich kommt. Aber leider gibt es ein paar Probleme, die auch wahrscheinlich durch diesen Besuch nicht gelöst werden können, grundsätzliche Fragen für unsere Kirche, über den Rang des Patriarchats der griechisch-katholischen Kirche, über die Seligsprechung unseres Metropoliten – wir haben erwartet, dass es dieses jahr geschieht, und es wird wieder eine Enttäuschung geben...

Taras Woznjak

Eine kleine Anmerkung: als der Papst sagte: «nächstes Jahr in Lwiw»,  war das wahrscheinlich nur so eine Redensart...

Dany Cohn-Bendit (Frankfurt)

...  es gibt ein jüdisches Lied: «nächstes Jahr in Jerusalem!», das singen sie seit 3000 Jahren...!

Lubko Petrenko (Lwiw)

Heute hat uns Cohn-Bendit mit der Perspektive erschreckt, dass wir ein halbes Jahrhundert lang uns nicht werden hineinschmuggeln können in die Europäische Union. Das schlimmste daran ist nicht die Vision selber, sondern die Tatsache, dass wir gegen Cohn-Bendits Behauptung gar nichts einwenden können. Ich kann mir durchaus die Probleme eines europäischen Politikers vorstellen, er fragt sich, wie er «das alles» hineinstopfen soll in die EU, besonders, wenn «das da» ja gar nicht hinein will... Ich möchte ein Schlagwort aufgreifen, das aus Europa kommt, das vom «Europa der Regionen». Wie wird eine derartige Idee betrachtet, von den europäischen Politikern, und von den unsrigen, also die Idee, dass die Europäische Union separat mit ukrainischen Regionen zusammenarbeitet, je nachdem, wie intensiv sie das wollen. Vielleicht könnte man so etwas Effektivität und Klarheit in unere Beziehungen bringen...

Dany Cohn-Bendit

Ich hab mich ja in meinem Leben sehr oft geirrt. Also müsst ihr bei meinen Voraussagen nicht gleich erschrecken, sie sind selten eingetreten. Ich musste beispielsweise eine Ewigkeit darauf warten, dass eine meiner liebsten Prophezeiungen eintraf : ich habe etwa 30 Jahre warten müssen, bis Frankreich tatsächlich Fußballweltmeister wurde. ( ... ) Also: ich kann mir sogar die Europäische Union ohne England vorstellen. Ja, du brauchst mich nichts so anzukucken, ja ich bin ein schrecklicher Mensch, ich weiß. Und deswegen fällt es mir nicht schwer, mir eine EU vorzustellen ohne die Ukraine, wobei ich nicht damit sagen will, dass die Ukraine nicht zu Europa gehört, aber ich habe es heute schon ausgeführt: ich kann mir nicht vorstellen, dass, solange ich Politik mache – ich werde mich jetzt auf diese Zeitschiene reduzieren – dass in dieser Zeit die Ukraine den Kandidatenstatus erhalten wird. Aber wir müssen eine Politik der Assoziation betreiben, die die Ukraine an den Europäischen Prozess bindet. ( ... ) Ich denke, wenn wir schon visionär sein wollen, vielleicht können wir die Sache völlig umdrehen: in dieser Konstituierungsphase der Europäischen Union und der Erweiterung haben wir eine grundlegende Anomalie, nämlich die Konzeption von starken äußeren Grenzen der EU, die jetzt mit dem Unwort «Schengen» verbunden werden. Ich glaube, die Vision muss gerade umgekehrt sein, die Vision eines Europa mit weichen Grenzen. Und wo auch immer diese Grenzen sein werden, immer wird die Frage der Regionen und der Zusammenarbeit der Regionen an diesen Grenzen eine zentrale Stelle haben. Wo auch immer diese Grenze sein wird. Für mich ist das Konzept der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Regionen gerade ein Konzept, das diese Frage «Mitgliedschaft» oder «Nicht-Mitgliedschaft» neu definiert. Genauso wie die Westukraine per weiche Grenze zusammenarbeiten muss mit den östlichen Regionen von Polen, so muss die Ostregion der Ukraine zusammengeführt werden mit den russischen Westregionen, damit eben eine Perspektive entwickelt wird, nicht in «harten Grenzen» zu denken, sondern in «weichen Grenzen» – mit regionaler Zusammenarbeit.

... enko (Politologin)

Eine Frage an Herrn Cohn-Bendit: Sie haben gegähnt, und so dachte ich, man muss sie etwas fragen. Eine Frage also an einen Menschen, der seine politische Karriere in der Studentenbewegung angefangen hat. Ich gehöre auch zu diesem kleinen Teil ukrainischer Menschen, die das, was sie erreicht oder auch nicht erreicht haben, den Anfängen in der ukrainischen Studentenbewegung schulden. Ich glaube, dass dieser kleinen Insel des Studentenlebens innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft  hier in der Ukraine viel zu wenig Gewicht beigemessen wird. Obwohl unser Herr Tarasjuk dieses Land, dieses gottvergessene Land in seinen Reden mit Europa verbinden möchte. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was die Studenten hier in der Ukraine in den Jahren 1990/91 versucht haben, was sie jetzt versuchen im Jahr 2001, was ihnen gelungen ist und was ihnen misslungen ist, aber ich frage Sie und fordere Ihre Fantasie heraus: Wenn man Ihnen vorschlägt, hier in Lwiw in der Universität vor den Studenten aufzutreten, zu einem Thema nach Wahl – würden Sie zusagen?

Dany Cohn-Bendit

Erstens würde ich das gern machen, und ich würde vor den Studenten über die Freiheit reden. Und was das für mich bedeutet.

Walter Mossmann (Freiburg)

Eine Anmerkung zu Lubko Petrenko: Die Formel «Europa der Regionen» stammt aus den 70er Jahren, als Widerspruch zur Formel «Europa der Nationen», die De Gaulle geprägt hatte. De Gaulle wollte ja die alten Nationalstaaten souverän erhalten unter dem europäischen Dach. Die regionalistischen Bewegungen hingegen sagten: es gibt in Europa sehr viele grenzüberschreitende Regionen, wie z.B. die deutsch-französisch-schweizerische am Oberrhein, die gemeinsame Interessen und Anliegen haben, die sie auch selber gemeinsam vertreten müssen, weil sie von den jeweiligen nationalen Metropolen als marginal behandelt und vernachlässigt werden. D.h. die Formel «Europa der Regionen» entstand nicht als Idee im luftleeren Raum, am Schreibtisch, sondern als Resultat tatsächlicher politischer und soziokultureller Prozesse. Aber hier in der Ukraine läuten ja schon die Alarmglocken, wenn jemand das Wort «Föderalismus» ausspricht, und deshalb war ich sehr froh über die Bemerkung von die Professor Popowytsch von heute morgen, dass die Ukraine zuviel Angst um das zarte Pflänzchen Staatlichkeit habe und deshalb vor jeder föderalistischen Idee zurückschreckt, obwohl sie diese Ideen dringend brauche. Und ich füge hinzu: Die Angst um die Staatlichkeit wird in Kiew auch oft genug zu durchsichtigen Zwecken instrumentalisiert. Abschließend eine Frage an Boris Tarasjuk: Sie äußern sich sehr positiv zu Europa, zur Europäischen Union. Das haben Sie früher als Außenminister getan, und das tun Sie heute auch noch, aber vermutlich nicht als Privatmann – Sie sagen «Wir». Wie dürfen wir das verstehen, wer ist «Wir», wenn es nicht mehr die Regierung der Ukraine ist?

Boris Tarasjuk

Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich meinerseits eine Frage an Sie alle stellen. Gab es 1986/87 schon Politologen, die Ereignisse vorausgesagt haben wie den Fall der Berliner Mauer, die Vereinigung Deutschlands, den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, den Zerfall der Sowjetunion, und das Entstehen eines neuen großen Landes auf der Karte von Europa mit dem Namen «Ukraina»? – Voilà! – Weshalb also meinen Sie, die Krise, die zur Zeit in der Ukraine herrscht, müsse notgedrungen 40 oder 50 Jahre dauern? Das ist meine Antwort an die Pessimisten – die aus der Europäischen Union und die aus der Ukraine. Und nun meine Antwort an Mossmann, was meine Äußerungen als Minister und als Politiker betrifft: Selbstverständlich hatte ich als Außenminister ganz andere Möglichkeiten, um auf eine Bewegung der Ukraine in Richtung Europäische Union einzuwirken. Und natürlich äußerte ich damals den offiziellen Standpunkt der ukrainischen Regierung. Und heute vertrete ich den Standpunkt wichtiger politisch aktiver Kreise der ukrainischen Intellektuellen, die sich für eine «europäische» Entwicklung der Ukraine engagieren. Nehmen Sie z.B. die Ergebnisse eines Meinungsforschungsinstituts, eine Befragung ukrainischer Intellektuellen – 59 % waren für den Nato-Beitritt – etwa zwei Drittel. Oder nehmen Sie die Umfrage der Zeitung «Den» aus dem letzten Jahr: 79 % der Befragten haben sich für einen EU-Beitritt der Ukraine ausgesprochen. D.h. ich sehe mich durchaus berechtigt, den Standpunkt dieses Teils der ukrainischen Gesellschaft öffentlich zu formulieren.

Gernot Erler (Berlin/Freiburg)

Ich möchte gerne eine Bemerkung machen, die anschließt an den ersten Teil von dem, was Boris Tarasjuk gesagt hat. Wo er auch an uns die Frage gestellt hat, wie lange wir glauben, dass es wohl dauert, bis die ukrainische Krise ein Ende findet. Ich will einfach nur mal deutlich machen, dass es im Augenblick für die Freunde der Ukraine nicht so leicht ist. Heute Morgen hat Dany Cohn-Bendit in der Diskussion drei Daten aus unserem politischen Gedächtnis genannt: 1956, 1968, 1981. Jedes Datum ist verbunden mit einem künftigen Mitglied der Europäischen Union – in unserem politischen Gedächtnis verbindet sich 1956 mit Imre Nagy, 1968 mit Alexander Dubcek und 1981 mit Lech Walensa. Das bedeutet, es gab immer in unserem politischen Gedächtnis ein «anderes» Ungarn, eine «andere» CSSR, ein «anderes» Polen. Das gilt auch für Russland. Es gab bei uns Lew Kopelew, es gab in Russland Andrej Sacharow, Jelena Bonner, und es gab nachher natürlich auch Michail Gorbatschow. Wir haben bisher keinen symbolischen Namen – ich will ja nicht von Helden sprechen – aus der Ukraine. Was sind denn die Begriffe, die im politischen Gedächtnis, im politischen Bewusstsein des Westens im Augenblick aus der Ukraine kommen? Unauslöschbar ist da der Begriff Tschernobyl. Als Tragödie. Aber was kriegen wir denn im Augenblick? Den Namen Gongadze kennt jeder inzwischen. Der sinkende Stern Kutschma. Die Tatsache, dass eine junge Frau namens Tymoschenko ins Gefängnis gebracht wird, was bei uns niemand versteht. Die Brüder Klitschko können das nicht alles ausgleichen. (Gelächter, Einwurf: «Andrij Schewtschenko!») – das ist jetzt eine andere Ebene, das hätte ich nicht sagen sollen... Nein, ich möchte zu einem sehr ernsten Punkt kommen. Ich finde es unerhört wichtig, jetzt, in dieser Zeit, wo wir lauter negative Nachrichten aus der Ukraine bekommen, zum ersten Mal so etwas wie eine andere Stimme zu hören. Ich rede nicht von Helden, aber davon, dass die Leute merken, dass es etwas anderes gibt. Das verbindet sich im Augenblick tatsächlich mit dem Projekt «¿ » und den Interviews, die Taras Woznjak den westlichen Zeitungen gibt. Ich hoffe, er hat jetzt weggehört, aber wenn wir gefragt werden, wie lange dauert die Krise noch, in unserer Rezeption, dann frage ich zurück: haben wir eine Chance, dass wir mehr Beweise für Pluralismus bekommen aus der Ukraine, wir brauchen Beweise für die «andere» Ukraine, das wird die Arbeit und das Engagement der Freunde der Ukraine leichter machen...

(„Politologe und Hobbyjournalist“)

Eine Frage an unsere Kollegen: Das große Schachbrett von Brzezinski ist ein amerikanisches Schachbrett für Europa – wo ist das europäische Schachbrett für Amerika?

Gernot Erler

Das Buch «The Grand Chessboard» ist getragen von geopolitischen Überlegungen. In diesem Buch spielen zwei Länder eine besondere Rolle, nämlich Taiwan und die Ukraine. Die Ukraine spielt dabei eine Rolle als geopolitisches Interessengebiet Amerikas. Für Zbigniew Brzezinski steht fest, dass, wenn die Ukraine selbständig bleibt, es nicht wieder zu einem russischen Imperium kommt. Deshalb hat er der amerikanischen Politik empfohlen, alles zu tun, damit dieUkraine selbständig bleibt. Nur deswegen. Das deckt sich nicht mit den europäischen Überlegungen. Ich bestreite nicht, dass es auch strategische Interessen der Europäer an der Stabilität in der Ukraine gibt. Es gibt ein ganz instinktives Interesse an einer stabilen Staatlichkeit in der Ukraine, das hängt zusammen mit den Atomreaktoren in diesem Gebiet. Und es gibt natürlich auch Interessen daran, dass die Pipelines, die durch die Ukraine gehen, funktionieren, weil sich Europa und insbesondere Deutschland ziemlich umfangreich abhängig gemacht hat von Lieferungen von Energie durch diese Pipelines. Und trotzdem unterscheiden sich unsere Interessen von den geopolitischen Interessen, die in Amerika formuliert werden. Hinter dem, was wir uns für die ukrainische Zukunft wünschen, stehen Einsichten, dass Gesellschaften, die demokratisch organisiert sind, die eine sozial ausgerichtete Marktwirtschaft aufgebaut haben, dass die einfach bessere Partner und bessere Nachbarn für Europa sind. Und dass auf dieser Basis sie auch eher Chancen entwickeln, an einem gesamteuropäischen Integrationsprozess in der einen oder anderen Weise teilzunehmen. Und überhaupt haben die Europäer eine andere Strategie als die Amerikaner gegenüber bestimmten Regionen, z.B. auch solchen, von denen sie ihre Energieversorgung abhängig machen. Ein Beispiel nur: ein wichtiges Produkt der Europäer aus den letzten Jahren ist der ganze Prozess der «European Energie Charta». Wir glauben, dass wenn wir die gesamte Energieversorgung vom Kaspischen Meer bis nach Westeuropa auf den Regeln von Gesetzen und einen internationalen Vertrag gründen, dass das stabiler und besser ist, als wenn man es auf Einflusszonen gründet. Und aus unserer Sicht ist das amerikanische Denken, was wir gelegentlich «neo-containment» nennen, genau ein Denken in Einflusszonen. Also «rule of law» als Prinzip von Stabilitätspolitik in Konkurrenz zu einem Denken des 19.Jahrhunderts mit  klassischen Einflusszonen oder Geopolitik – das ist eigentlich der Unterschied zwischen Amerika und Europa, und das wird sehr deutlich in der Resonanz der Europäer auf das Werk von Brzezinski, das Sie zitiert haben. ( ... )


Arbeitsgruppe 2

Input von Kasia Wolczuk

Ich möchte in meinem kurzen Beitrag zwei zentrale Punkte behandeln, welche die Auswirkungen betreffen, die nach Einführung des Schengen-Grenzregime an der polnisch-ukrainischen Grenze zu erwarten sind; im Anschluss daran einige Empfehlungen.

(1)

Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, dass die polnisch-ukrainischen Beziehungen von Bedeutung sind vor allem aus politischen und weniger aus wirtschaftlichen Gründen. Wie es Klaus Bachmann formulierte: Die Ukraine ist ein politisches, kein ökonomisches Projekt. In der Tat, Polen ist nur der sechsgrößte Wirtschaftspartner der Ukraine, und für Polen ist der Handel mit der Ukraine weitgehend insignifikant. Es ist nicht nur das Ausmaß des Handels, das im nationalen Rahmen so unbedeutend ausfällt, sondern vielmehr die Tatsache, dass dieser Handel die pathologische Form des sogenannten «Reisetaschen»-Handels angenommen hat. Dieser spontane und geringfügige wirtschaftliche Austausch hat langfristig keine Bedeutung und wird aussterben, sobald sich besser organisierte Handelsformen entwickeln. Deshalb, so wurde gesagt, kann er nicht als unterstützenswertes Phänomen betrachtet werden.

Diese Argumentation stimmt natürlich, insofern sie sich auf die gesamte Volkswirtschaft bezieht. Auf einer sub-staatlichen Ebene dagegen nimmt das ökonomische Problem durchaus größere Ausmaße an, und wenn man die Auswirkungen des Schengenregime an der polnisch-ukrainischen Grenze richtig verstehen will, muss man seine Bedeutung für die Grenzregionen in der Ukraine und in Polen seiner ganzen Tragweite untersuchen.

Das Lwiwer Gebiet (Oblast) unterhält enge wirtschaftliche Beziehungen mit seinem westlichen Nachbarn. Polen ist der drittgrößte Handelspartner für den Oblast Lwiw. Untersuchungen zeigen, dass wegen des besonderen Export-Profils (hauptsächlich Rohstoffe) die formelle Ökonomie durch das Schengenregime nicht sonderlich beeinträchtigt wird, denn nicht allzuviele Exportgüter werden auf EU-Standards gebracht werden. Die Wirtschaftsprobleme im Oblast Lwiw resultieren aus der allgemeinen Wirtschaftskrise, deren Lösung auf nationaler Ebene geleistet werden müsste. Allerdings gibt es dort zur Zeit keine spezifischen Wachstums-Debatte und Wachstums-Lösungen für die Oblast-Ökonomie. Das gegenwärtige Handelsniveau entspricht weder dem Potenzial noch den Interessen beider Seiten, und das künftige Visa Regime wird es kaum erlauben, dass das Handelsvolumen zwischen Polen und der Ukraine über das gegenwärtige Niveau steigt, das nun wirklich sehr niedrig ist, gerade im Vergleich mit dem Russland-Handel.

Die Einführung des Visa-Regime wird die bei weitem spürbarsten Auswirkungen auf die informelle Ökonomie haben, die nach Schätzungen etwa denselben Umfang hat wie die formelle. Im einzelnen wird sie sich massiv auswirken auf den informellen grenzüberschreitenden Handel, wegen des spontanen Charakters dieser Aktivitäten, der niedrigen Transportkosten und der schmalen Profitspanne. Wenn wir den Komplx der Arbeitslosigkeit in den westlichen Gebieten der Ukraine betrachten, sehen wir, dass der Handel einen entscheidenden Anteil an der «Überlebenstrategie» vieler Haushalte in der Region hat. Desgleichen die Arbeitsmigration nach Polen. Wie zahlreiche Untersuchungen zeigen, wird Polen als Zielort deutlich favorisiert (nach Schätzungen arbeiten etwa 200.000 Ukrainer in Polen, die meisten illegal) nicht nur wegen der geringen Reisekosten und wegen des leichteren Zugangs (verglichen mit EU-Mitgliedsländern), sondern auch wegen der kulturellen und sprachlichen Nähe und wegen der Existenz von starken Migranten-Netzwerken. Die Einführung des Visaregime wird die existierenden Einkommensmuster für viele Ukrainer beschneiden und zu einer künftigen sozio-ökonomischen Verschlechterung beitragen.

Die Konsequenzen der Einführung des Visaregime werden sich nicht nur in der Ukraine auswirken, sondern auch in Polen. Der Bazar-Handel macht einen bedeutenden Anteil des Einkommens von Polens südöstlichen Provinzen aus und hilft somit, die zunehmende regionale ökonomische Ungleichheiten innerhalb Polens etwas auszugleichen. Wie der Wojwode der Lubliner Wojwodschaft gezeigt hat, überleben 30 bis 40 % der kleinen und mittleren Betrieb in seinem Bezirk nur dank dem Ukraine-Handel. Seit die polnischen Ost-Provinzen die Bedeutung des Ost-Handels für ihre eigene ökonomische Situation realisiert haben, sieht sich Polen nunmehr mit neuen internen Spannungen konfrontiert dergestalt, dass manche Regionen an der ukrainischen Grenze eine offene Grenze wichtiger finden als eine EU-Mitgliedschaft. Wir sehen zwar, dass der informelle «Reisetaschen»-Handel ein Nebeneffekt der Diskrepanzen zwischen der polnischen und ukrainischen Wirtschaft ist, und er wird zweifellos wieder verschwinden, wenn die Ukraine ihre Wirtschaftskrise überwunden hat. Aber bis es einmal so weit ist, gibt es keine wirklich Alternative; Warschau scheint keine Strategie zu haben, wie man die künftigen Verluste im Handel in den östlichen Provinzen kompensieren könnte. Man erwartet, dass nach dem EU-Beitritt Gelder aus den Brüsseler Struktur-Fonds ins Land strömen werden und dass die schlimmsten Folgen der Grenzschließung so abgefedert werden könnten. Allerdings steht der Beitritts-Termin noch nicht fest, infolgedessen ist noch völlig ungewiss, wann Polen in den Genuss der Zuwendungen kommen wird und in welchem Ausmaß.

2.

Die Grenze im Schengen-Stil wird wirtschaftliche, kulturelle, politische Verbindungen zerreißen, die sich seit dem Collaps des Kommunismus zwischen Polen und der Ukraine seit dem Kollaps des Kommunismus entwickelt haben. Denn dort hat sich tatsächlich einiges getand in den letzten 10 Jahren.

In den 90er Jahren kam es zu zwei wichtigen Initiativen, in welche polnische und ukrainische Grenzregionen involviert waren: Die «Euroregion BUG» (mit Weißrussland) und die «Euroregion Karpathen» (unter Einschluss von Rumänien, Slowakei und Ungarn). Diese Euroregionen haben die Erwartungen, die man in sie gesetzt hatte, nicht erfüllt, sie haben grenzüberschreitende polnisch-ukrainische Zusammenarbeit nicht in dem erforderlichen Maße gefördert, hauptsächlich wegen fehlender Mittel und mangelnder Initiative der lokalen Selbstverwaltungs-Körperschaften. Trotzdem wurden immerhin, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Euroregionen, direkte Kontakte zwischen regionalen und lokalen Regierungsgremien graduell begünstigt, und diese ersten Initiativen haben dazu beigetragen, dass alte Feindseligkeiten und die Isolation aus der Ära des Kommunismus bearbeitet wurden. Es entwickelte sich ein Akademiker-Austausch, und in Lublin wurde eine polnisch-ukrainische Universität nach dem Modell der deutsch-polnischen «Viadrina» in Framkfurt/Oder eingerichtet. Auf dem Nichtregierungssektor sind die polnischen NGO sehr daran interessiert, ihre Erfahrungen zu nutzen und als «Guide» für westlich orientierte NGO in der Ukraine zu fungieren, das im Gegensatz zu Polen als legitimer Empfänger für Hilfe zum Aufbau einer Zivilgesellschaft angesehen wird. Eine der wichtigsten Entwicklungen auf diesem Feld ist die «Polen-Amerika-Ukraine Cooperations Initiative» (PAUCI), die grenzüberschreitende Projekte unterstützt, speziell auf dem Gebiet des Handels und der Lokalpolitik.

Die Implantation einer Schengen-Grenze wird die existierenden wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Verbindungen zerreißen. Dieser Riss wird regelmäßig als Argument gegen die Errichtung einer solchen Grenze zwischen Polen und der Ukraine ins Feld geführt. Aber obwohl die Intensität von regionaler und grenzüberschreitender Zusammenarbeit ständig zunimmt, müssen wir das Resultat noch als ungenügend bezeichnen, was kaum überraschen wird, da man doch zumeist bei Null anfangen musste. Direkte grenzüberschreitende Kontakte zwischen der Sowjetukraine und Polen hat seinerzeit jener zweite Eisernen Vorhang verhindert, der zwischen den beiden Staaten, also innerhalb des Sowjetblocks. Das Erbe jener Epoche spiegelt sich in der Tasache, dass viele heutige Initiativen eher in der Deklaration existieren als in der Substanz. Deshalb ist das Ziel für die Grenzregion in beiden Ländern nicht die Erhaltung existierender Verbindungen, als vielmehr ihre Entwicklung. Nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern auch um eine grenzüberschreitende Verständigung zu erreichen, um die traditionellen gegenseitige Feindseligkeiten und Vorurteile zu bekämpfen. Die Schengengrenze hinwieder wird einen zerstörerischen Effekt auf die existierenden grenzüberschreitende Zusammenarbeit haben.

Empfehlungen:

Deshalb müssen Wege beschritten werden, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu fördern. Hier einige Empfehlungen, bezogen auf diese Region und zur Prüfung vorgelegt den zuständigen EU-Institutionen.

Die EU-Politik konzentriert sich sowohl gegenüber zentraleuropäischen Beitritts- als auch Nichtbeitrittsländern auf die jeweiligen nationalen Hauptstädte. Gleichwohl, denen fehlt oft genug Infrastruktur, Kapazität und oft genug Initiative der Bürokratie, um angemessen die substaatlichen, regionalen Interessen und deren Relation zur EU zu repräsentieren. Deshalb braucht es größere Aufmerksamkeit für die Entwicklung in den Regionen wie in der UA. Die EU kann sich nicht begbügen mit Informationen aus Kiew, sie muss auch in der Westukraine präsent sein. Eine etwas sichtbarere Präsenz der EU auf der regionalen Ebene würde helfen, existierende und künftige Problem in folgenden Bereichen zu überwinden:

- Informationsbeschaffung für die EU über Entwicklungen auf der substaatlichen Ebene, was helfen würde, ein effektives Grenzmagement zu besorgen.

- Co-ordination von Erleichterunge, visa betreffend, Um die negative Auswirkungen der Einführung des Visa-Regimes zu minimisieren.

- Verbreitung von Information über die EU auf regionalem Level (i.e. öffentliche Bildungs-Initiativen.)

- Anregung und Grundfinanzierung von grenzüberschreitenden Zusammenarbeits Initiativen (das bedeutet eine radikale Revision  der existierenden PHARE/TACIS Programme, die zur Zeit weit völlig unzusammenhängen funktionieren)  Euroregionen sollten ebenso Instrumemnte bleiben für CBC. Jedoch um funktional zu werden, ist nicht nötig ein größeres Level von Geld anlegen, sondern ein weitreichendes Neuentwerfen/aufbrechen der existierenden Einheiten (Carp und Bug Euroregion) das wär eine notwendige Voraussetzung..


Annegret Haase – AG 2

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit: wirtschaftliche und politische Konzepte, Wirtschaft und Handel, Verkehr. Euroregionen, Arbeitsmigration.

Moderation: Klaus Linsenmeier, HBS Berlin

_______

Zusammenfassung von Annegret Haase

Arbeitsstand: 05.07.01 (Reihenfolge der Punkte nicht wertend)

Bemerkungen: Diese Punkte geben meine persönliche Ansicht wider und sprechen nach meinen Erinnerungen einige von den Themen an, welche im Rahmen der Arbeitsgruppensitzung diskutiert worden sind. Wenn etwas von diesem Text in den Konferenzbericht gelangen sollte, so bitte ich dies zu berücksichtigen. Ein ausführliches Protokoll der Sitzung liegt mir leider nicht vor.

  • Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit funktioniert nur, wenn (a) gemeinsame Interessen zugrunde liegen, (b) Finanzierungsmöglichkeiten für konkrete Aktivitäten bestehen und (c) ein ausreichender Kompetenzspielraum der Akteure vor Ort gegeben ist. Dazu drei Beispiele: 1. Die Euroregion «Karpaten» (1993 gebildet) hat heute ein Territorium von etwa 150.000 qkm, fünf Mitgliedsstaaten (neben Polen und der Ukraine die Slowakei, Rumänien und Ungarn) sowie ca. 15 Mio. Einwohner. Sie verfügt über ein minimales Budget und ein alle zwei Jahre wechselndes Sekretariat. So kann kaum eine Alltagstransparenz und Alltagswirksamkeit bei der in den Grenzregionen lebenden Bevölkerung erreicht werden. 2. Der Handlungs- und Entscheidungsspielraum der regionalen Akteure auf polnischer und ukrainischer Seite ist sehr unterschiedlich. So existiert in Polen die Selbstverwaltung sowohl auf regionaler als auch lokaler Ebene sowie eigene Budgets dieser Selbstverwaltung. In der Oblast Lwiw ist dies nicht der Fall. Zudem hat man dort Schwierigkeiten mit der neuen Doppelstruktur der polnischen Verwaltung (Wojewodschafts- und Marschallamt). 3. Vergleichbar mit den Unterschieden der Förderung der Grenzregionen durch Interreg und Phare-CBC können auch mit Phare-CBC (Polen) und Tacis-CBC (Ukraine) keine gemeinsamen Projektanträge finanziert werden. Darüber hinaus besitzen beide Förderfonds eine unterschiedliche Philosophie, so dass eine Abstimmung nahezu unmöglich ist. Hier ist auch die EU als Geldgeber nach mehr Flexibilität gefragt!
  • Internationale und nationale Rahmenbedingungen spielen eine zunehmend wichtige Rolle für die Entwicklungsmöglichkeiten der grenzüberschreitenden Kooperation zwischen Polen und der Ukraine. Internationalbetrachtet sind es Prozesse wie die Osterweiterung der EU und der NATO, national gesehen die Entwicklung der Zivilgesellschaft, differierende nationale Transformationserfolge und Entwicklungspfade, die Bedeutung der regionalen Akteure sowie die nationalen  Beziehungen Polens und der Ukraine zur EU und zu Russland.
  • Daneben sind es vor allem auch das wachsende Einkommens- und Wohlstandsgefälle sowie zunehmende Transformationsunterschiede zwischen den Grenzregionen, welche einen Einfluss auf die grenzüberschreitende Kooperation haben. Bereits heute ist das Einkommensgefälle zwischen Südostpolen und der Oblast Lwiw größer als an der polnisch-ostdeutschen Grenze, und es wächst mit jedem Jahr (heute etwa 8-10facher Unterschied im Durchschnittseinkommen). Durch die bevorstehende EU-Integration werden sich die wirtschaftlichen und sozialen , aber auch die rechtlichen Rahmenbedingungen und Grundstrukturen in beiden Grenzregionen noch weiter differenzieren, was für eine Kooperation nicht unbedingt vorteilhaft sein dürfte.
  • Historische Konflikte – vor allem im Zusammenhang mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – stehen heute am Beginn ihrer Aufarbeitung. Sie werden lokal sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet, auch Generationen-Unterschiede kommen hierbei sehr zum Tragen. Die Bedeutung polnisch-ukrainischer historischer Divergenzen sind sicherlich in den Städten Przemysl und Lwiw am größten. Erinnert sei an die Besetzung der Karmeliterkirche in Przemysl 1991 und der Abriss der Kuppel 1993-96, die Ausschreitungen zu den Festivals der ukrainischen Kultur in Przemysl 1995 und 1997 sowie an den Streit um die Restaurierung des polnischen Soldatenfriedhofes auf dem Litschakiwske-Friedhof in Lwiw. Ob eine «Brückenfunktion» der polnischen und ukrainischen Minderheit im Grenzgebiet existiert, wird auch unterschiedlich bewertet.
  • Ein großes Problem für eine effektive und erfolgreiche Wirtschaftskooperation im polnisch-ukrainischen Grenzraum ist die schwache Wirtschaftsbasis in beiden Grenzregionen, trotz der Entwicklung des privaten Dienstleistungssektors vor allem auf polnischer Seite. Die Grundstrukturen in der Landwirtschaft (Kleinfelderwirtschaft) haben sich in Südostpolen nicht verändert, die  Privatisierung verläuft langsam und es fehlt an einheimischem Kapital. In der Oblast Lwiw sind nach 1991 die meisten Industriebetriebe zusammengebrochen, die Landwirtschaft und vor allem kleine Subsistenzbetriebe halten die Versorgung der Bevölkerung einigermaßen aufrecht. Dazu kommen das bekannte  Gesetzes“chaos“ etwa für ausländische Investoren in der Ukraine und die  Unterentwicklung des business environment , was u.a. auch polnische Unternehmer abschreckt zu investieren. So gibt es im Grenzraum heute nur wenige und zumeist kleine, kapitalschwache Jointventures und die in Mielec und Jaworiw bestehenden Sonderwirtschaftszonen weisen kaum grenzüberschreitende Aktivitäten auf. Polnisch-ukrainische Handelskammern in Lwiw und Rzeszów organisieren im wesentlichen Messen und Unternehmerforen und ermuntern Firmen zur Zusammenarbeit.
  • Die praktisch einzige Art der grenzüberschreitenden Wirtschaftskooperation, welche heute im polnisch-ukrainischen Grenzraum funktioniert, ist der Grenzhandel. So umstritten seine Bedeutung heute ist, stellt er dennoch weiterhin das zentrale Moment aller grenzüberschreitenden Kontakte der Bevölkerung dar und hat auch als Lebensgrundlage weiterhin für die Menschen in den Grenzregionen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Folgende Argumente sprechen – trotz des Niedergangs des Handels seit 1998 – für seine nach wie vor beträchtliche Rolle im alltäglichen Grenzverkehr und Austausch: (a) ein großer Teil der Grenzgänger sind Händler, (b) der Handel und sein Umfeld (Gastronomie, Verpflegung, Transport, Vermittlung usw.) schaffen zahlreiche Erwerbsmöglichkeiten, (c) er ist ein wichtiges Kommunikationsfeld, (d) er stabilisiert die regionale und lokale Wirtschaft in Südostpolen, (e) er mildert die soziale und Einkommenskrise in der ukrainischen Grenzregion ab, (f) er trägt dazu bei, die Grenze und den Nachbarn anders (oft: normaler, positiver, verständnisvoller) wahrzunehmen.
  • Zur ökologischen bzw. Umweltproblematik sollen zwei Dinge angemerkt werden: (1) geht es um den Aspekt des grenzüberschreitenden Natur- oder Umweltschutzes. Hier gibt es im Rahmen der Euroregion Karpaten das Projekt „Grüne Karpaten“, von dem mir jedoch nicht bekannt ist, in welchem Organisations- oder Realisierungsstadium es sich befindet (möglicherweise gibt es auch Verbindungen mit schon bestehenden Biosphärenreservaten im Grenzgebiet). Verantwortlich für seine Durchführung ist die polnische Seite der Euroregion mit Sitz in Krosno (südlich von Rzeszów). Weiterhin gibt es Pläne, z.B. den auf polnischer Seite bei Zamosc existierenden Roztocze-Nationalpark mit den Schutzgebieten auf ukrainischer Seite (Schutzgebiet Roztocze und Nationalpark bei Nowojaworo bei Jaworiw) zu verbinden, um ein grenzüberschreitendes Schutz- und Erholungsgebiet zu schaffen. Hier bestehen tatasächlich große Potenziale. (2) Ein zweiter Aspekt ist die ökologische Belastung, welche von Herrn Olszanski in der Arbeitsgruppe auch schon angesprochen worden ist. Hier geht es vor allem um schädliche Auswirkungen von in der ukrainischen Grenzregion befindlichen Förderstätten von Schwefel (bei Schklo, jedoch produziert diese Anlage heute nicht mehr) und der Förderung von Stienkohle im Wolhynisch-Lemberger Kohlerevier bei Tscherwonohrad und Sokal. Die Umweltsituation in dieser Region, welche ich in diesem Jahr selbst in Augenschein nehmen durfte, ist wirklich dramatisch und führt zunächst zu akuten Gefährdungen für Mensch und Natur in dem engeren Förderraum selbst (bekannt geworden sind Zahnprobleme bei Kindern und Jugendlichen). Sicher gibt es auch ernste Folgen für die polnische Seite, da die Fördergebiete unmittelbar an der Grenze liegen (kamen erst 1951 durch einen Gebietsaustausch zur Ukraine). Der westliche Bug, welcher nördlich von Tscherwonohrad zum Grenzfluss zwischen Polen und der Ukraine wird, ist höchstwahrscheinlich auch stark belastet. Derzeit gibt es Bemühungen von deutschen und ukrainischen Wissenschaftlern aus Leipzig und Lwiw, diesbezüglich ein gemeinsames Forschungsprojekt zu organisieren.
  • Die EU-Osterweiterung stellt eine große Herausforderung für die Grenzgebiete dar. Im Zentrum dabei steht die Gestaltung des zukünftigen Grenzverkehrs im Rahmen der Bestimmungen des Abkommens von Schengen, welche Polen ratifizieren muss, um Mitglied der EU zu werden. Obgleich heute Veränderungen im Grenzverkehr noch nicht unmittelbar bevorstehen (Polen sagte der Ukraine die Einführung von Visa erst im letzten Moment vor dem Beitritt zu), machen sich viele Menschen in den Grenzregionen bereits jetzt Sorgen um etwaige Beschränkungen für den täglichen Grenzverkehr und den Handel, der eben doch noch immer (allen anderen Argumentationen zum Trotz) eine nicht unwichtige Rolle für das Einkommen vieler Bewohner der Grenzregionen spielt. Wichtig erscheint an dieser Stelle vor allem eine allseitige Information (Text Hilkes: adressatenspezifisch) über die Risiken, aber auch über Perspektiven des polnischen EU-Beitritts für die Grenzregionen, denn diese werden sehr schwach wahrgenommen! Das gilt nicht nur für die ukrainische Seite, denn auch die Akteure in den polnischen Grenzregionen wissen, dass ihre Regionen wirtschaftsschwach sind und die Kleinlandwirtschaft in der EU zum Untergang verurteilt sein wird. Daneben scheint es aber auch notwendig, dass die EU-Vertreter aus Brüssel sich der Probleme der Menschen in den Regionen entlang der neuen Außengrenze der EU stärker bewusst werden. Es sind eben spezifische Probleme, welche oftmals nicht deckungsgleich sind mit Problemen auf nationaler Ebene. Hier stehen Verständnis und Konzepte noch völlig am Anfang. Ablehnende Haltungen zur EU und Ängste vor dem Beitritt, welche die Menschen in den Grenzregionen haben, müssen ernst genommen werden. Ich persönlich sehe hier gewaltigen Handlungsbedarf, sowohl in den Grenzregionen als auch in Warschau und Brüssel.

Annegret Haase
Institut für Länderkunde Leipzig
Abteilung Regionale Geographie Europas
DFG-Projekt „Wandel in ostmitteleuropäischen Grenzregionen“


Gernot Erler

Der Europäische Integrationsprozess und die Ukraine

Die „Europäische Union“ war keineswegs von Beginn an als gesamteuropäischer Integrationsprozess angelegt. Sie wollte Union in Europa sein, in einem Europa, das bis 1989 sowieso von einer Systemgrenze durchschnitten war. Erst als die Grenzlinie zwischen Ost und West fiel, rückte die Option eines gesamteuropäischen Prozesses ins Blickfeld. Und erst danach tauchte die Befürchtung auf, es könnten neuen Grenzen in Europa entstehen.

Die revolutionäre Umbruchphase von 1989 bis 1991 konfrontierte das alte Westeuropa mit einer neuen, unruhigen Nachbarschaft. Ringsum Zerfall: der Sowjetunion, des Warschauer Vertragssystems, der jugoslawischen Föderation. Als Zerfallsprodukte meldeten sich zwei Dutzend junge und instabile Republiken auf der europäischen Arena zurück. Sie mussten durchweg schockierende Desintegrationsfolgen verkraften – Niedergang der Produktion, Zusammenbruch der bisherigen Handelsbeziehungen, Verlust der vertrauten sozialen Sicherheit. Die Reorientierung verlangte einen Werte- und Systemwechsel, der lapidar „Transformation“ genannt wurde, tatsächlich aber dramatische Formen annahm. Denn durchweg mussten die neuen Führungen der Transformationsstaaten auf dem Pfad des Systemwechsels bleiben, obwohl dieser zunächst von der Mehrheit der Menschen als soziale und ökonomische  Depravierung erfahren wurde.

Auf den Heroismus der neuen Reformeliten allein konnte man sich auf Dauer nicht verlassen. Die Transformation der neuen europäischen Republiken brauchte eine lohnende Perspektive zur Legitimation der abverlangten Opfer. Diese Erkenntnis führte zu einem Integrationsangebot der EU an eine ausgewählte Gruppe der Transformationsstaaten. In seiner Organisation als Wettbewerb versucht das EU-Osterweiterungsprogramm erst gar nicht, seinen Stimulanz- und Prämiencharakter zu verbergen: Am Ende wird nur der in den Club aufgenommen, der nachweislich den EU-Besitzstand erreicht hat. Das vermindert nicht nur das Risiko der Altmitglieder, sondern garantiert jenen Zugewinn für die gesamte Union, der sich auch bei früheren Erweiterungen nach einer gewissen Zeitspanne stets eingestellt hatte.

Das System funktionierte. Das Aufnahmeziel vor Augen traten 10 ost- und südosteuropäische Transformationsgesellschaften in einen edlen Wettbewerb. Sie alle – die drei baltischen Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien sowie Bulgarien und Rumänien – wollten so rasch wie möglich die europäischen Kriterien erfüllen. Dazu gehörte, alle Nachbarschafts- und Minderheitenprobleme zu lösen. Ein heilsamer Druck, wie sich gerade im Vergleich zu anderen europäischen Regionen bald herausstellte!

Denn es zeigte sich, dass dort, wo kein konkretes Integrationsangebot lockte, die Desintegrationsprozesse keineswegs geraden Wegs in geordnete Transformationsprozesse übergingen. Besonders auf dem Balkan stellten in den 90er Jahren blutige Krisen und Kriege die Europäer und die ganze Weltgemeinschaft wiederholt vor schwer lösbare und kostspielige Aufgaben. Es dauerte bis zum Kosovokrieg 1999, dass die Europäer – sogar noch vor der Beendigung der militärischen Intervention – die Konsequenzen zogen und allen südosteuropäischen Staaten ein größeres Hilfs- und Integrationsangebot unterbreiteten.

Heute existiert ein Instrumentennetz, bestehend aus dem EU-Osterweiterungsprozess, dem „Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess“ (SAP) und dem „Stabilitätspakt für Südosteuropa“, in dem letztlich alle Transformationsstaaten aufgefangen werden. Stabilitätspakt und SAP verstehen sich dabei ausdrücklich als Vorbereitungsstrategien für einen späteren unmittelbaren EU-Beitrittsprozess. Länder wie Albanien und die vier Nachfolgestaaten der jugoslawischen Föderation neben Slowenien (Bundesrepublik Jugoslawien, Kroatien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina) wissen jetzt, dass es letztendlich von ihnen selbst abhängt, mit welchem Tempo sie den europäischen Integrationsprozess mitgehen. In der Perspektive ist damit die  Europäische Union auch nicht mehr ein Club in Europa, sondern die EU wurde, unter dem Druck blutiger Ereignisse und in Erwägung sicherheitspolitischer Ziele, zum Akteur eines gesamteuropäischen Integrationsprozesses. Dieser Prozess bietet heute eine Beitrittsperspektive für alle europäischen Länder und schließt kein Land mehr aus.

Wirklich kein Land? Es gibt da eine Unklarheit. Zwischen der Russischen Föderation und dem eben beschriebenen europäischen Integrationsraum liegt ein Gürtel von drei Ländern, deren Status aus verschiedenen Gründen nicht eindeutig definiert ist: Belarus (Weißrussland), Ukraine und Moldowa. Ukraine und Moldowa verfügen über Partnerschafts- und Kooperationsverträge mit der EU, Moldowa nimmt inzwischen auch an einigen Programmen des „Stabilitätspakts für Südosteuropa“ teil. Aber faktisch treffen wir hier auf eine politische Leerstelle. Auf dem Balkan hat die EU ihre Politik korrigiert, zugunsten einer Integrationsperspektive, die weitere Krisen und Konflikte vermeiden soll. Aber was das große „Grenzland“ (nichts anderes heißt auf Deutsch „Ukraina“) im Osten angeht, gibt es bisher keine eindeutige europäische Festlegung.

Nicht, dass die EU kein Interesse für die Ukraine zeigt. Der Europäische Rat von Helsinki hat am 11. September 1999 sogar – in Parallele zu der „Common Strategy“ für Russland – eine „Gemeinsame Strategie der Europäischen Union für die Ukraine“ beschlossen. Darin ist die Rede von einer „Strategischen Partnerschaft“ zwischen der EU und der Ukraine. Die Ratio dieser Partnerschaft lässt sich am knappsten durch einen Satz aus dem Strategie-Dokument wiedergeben: „Der Europäische Rat erkennt an, dass eine erfolgreiche, stabile und sichere Ukraine ganz im Interesse der EU liegt.“ Entsprechend benennt die Strategie dann alle Transformationsfelder, bei denen sich die EU Fortschritte der Ukraine erhofft und dabei auch zu Unterstützungsmaßnahmen bereit ist. Auffallend ist das europäische Interesse an einer sicheren Kontrolle der ukrainischen Atommeiler (Tschernobyl) und an einer Funktionsfähigkeit der Ukraine als Durchgangsland für Öl- und Gaslieferungen aus der Russischen Föderation nach Europa (EU-Programme TRACECA und INOGATE). Über irgendwelche Integrationsangebote, die über das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, das seit dem 1.3.1998 in Kraft ist, hinausgeht, schweigt sich die Gemeinsame Strategie aus.

Bemerkenswert ist allerdings, in welcher Weise sich das Europäische Parlament kontinuierlich mit der Ukraine beschäftigt. Da gibt es durchaus ein parlamentarisches Interesse an einer Umsetzung der „Gemeinsamen Strategie“ von 1999. Am 15. März 2001 hat das Europäische Parlament zu diesem Thema eine Entschließung vorgelegt, die über die Statements der „Gemeinsamen Strategie“ hinausgeht. Die Parlamentarier weisen in diesem Text wiederholt der Ukraine eine „Schlüsselrolle für Frieden, Stabilität und Wohlstand in Europa nach Beendigung des Kalten Krieges“ zu. Und sie werden sich bewusst, dass die Ukraine nach der näherrückenden EU-Osterweiterung unmittelbarer Nachbar gleich von vier künftigen EU-Mitgliedern werden wird - nämlich von Polen, der Slowakei, von Ungarn und Rumänien. Künftig sei es möglich, so die Entschließung, „dass die Schengen-Grenze einen ethnisch gemischten Lebensraum zerschneidet und deshalb für das Zusammenleben der dortigen Bevölkerung Probleme mit sich bringt.“

Die Europaparlamentarier gehen noch weiter. Sie stellen fest, „dass alle europäischen Nationen für eine EU-Mitgliedschaft in Frage kommen, wenn sie die politischen und wirtschaftlichen Kriterien erfüllen“, und sie fordern Rat und Kommission auf, eine umfassende gesamteuropäische Politik für die EU zu entwerfen, auf der Grundlage eines „neuen europäischen Raums“, der offenbar die Länder zwischen der sich erweiternden EU und der Russischen Föderation miteinbezieht. Dies impliziert noch kein verlässliches Integrationsangebot an die Ukraine. Aber erstmals haben die Europaparlamentarier ihr Problembewußtsein zur Rolle der Ukraine als neuer Nachbar der EU nach deren Erweiterung formuliert und entsprechende europäische Handlungskonzepte eingefordert.

Über konkrete Reaktionen von Rat und Kommission auf diese Aufforderungen ist bis heute nichts bekannt. Aber die EU-Erweiterung rückt näher, und damit auch das Grenzproblem. „Strategische Partnerschaft“ und „Schlüsselrolle für Frieden, Stabilität und Wohlstand in Europa“ - das sind große Worte! Reicht das Aufhängen dieser Wort-Girlanden, um dem ukrainischen Transformationsprozess - einem der langsamsten, schwierigsten und widerspruchsvollsten in ganz Europa - den notwendigen Motivationsschub zu geben? Eher nicht. Eher wird es darauf ankommen, was mit und nach der EU-Osterweiterung passiert. Ob dann eine neue europäische Trennlinie z. B. zwischen Polen und der Ukraine entsteht. Denn in der heutigen Vor-Schengen-Situation füttert tatsächlich alles, was sich von ökonomischer Existenzabsicherung bis zum politischen Ideenaustausch in dieser Grenzregion abspielt, jene proeuropäische Option der Ukraine, die über das bloße Lippenbekenntnis zu Europa hinausgeht.

Ein rigides Schengen-Regime - und das könnte sich positiv für die Ukraine auswirken - schafft auch anderswo Probleme. Zum Beispiel in Ungarn, das ja schlecht eine septische Abgrenzung zu den 1,5 Mio. Rumänien-Ungarn akzeptieren kann, wenn Budapest früher als Bukarest EU-Mitglied wird. Oder Kaliningrad - diese russische Exklave im künftigen EU-Land könnte zum Pilotprojekt für ein Schengenregime, das wirksame Kontrollen mit regionaler und örtlicher Transit-Flexibilität in intelligenter Weise miteinander verbindet. Dasselbe braucht die Ukraine mit seinen künftigen EU-Nachbarn, besonders mit Polen.

Die Politik muß den Ansatz der EU-Parlamentarier von einem „neuen europäischen Raum“ aufgreifen und weiterentwickeln. Es war ein Fehler, nach 1989 die Integrationsperspektive auf 10 Transformationsstaaten Ost- und Südosteuropas zu begrenzen und andere auszugrenzen. Die Korrektur erfolgte 1999 und 2001 - nach immensen politischen und finanziellen Kosten. Heute nähern wir uns einem Gesamtkonzept der europäischen Integration mit der EU als Akteur in der Mitte, das umso krisen- und konfliktunanfälliger wird, je konkreter und vertrauensvoller die Integrationsperspektive wahrgenommen wird.

Solange das Konzept des „neuen europäischen Raumes“ noch nicht den Charakter einer weiteren Abstufung des gesamteuropäischen Integrationsangebotes angenommen hat, drängt sich die Gestaltung des Grenzproblems in den Vordergrund.

Ohne Kontrollen an den EU-Außengrenzen wird die Ausdehnung des Schengen-Regimes scheitern und damit innerhalb der EU zu einem Zweiklassensystem führen, was niemand wünschen kann. Eine hermetische Grenze ohne örtliche und regionale Durchlässigkeit schafft aber genau jene neuen europäischen Trennungslinien, die in der Vergangenheit so zerstörerische Wirkungen entfaltet haben. Über solche Grenzen zu sprechen, heißt Sicherheitspolitik auf der Basis erst kürzlich gemachter Erfahrungen zu betreiben. Es zu unterlassen, wäre weit mehr als fahrlässig.