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Euromaidan: Keine extremistische, sondern freiheitliche Massenbewegung

Der Kiewer Euromaidan ist keine extremistische, sondern eine freiheitliche Massenbewegung zivilen Ungehorsams

Wir sind eine Gruppe von Sozial- und Geisteswissenschaftlern, die sich mit ukrainischer nationaler Identität befassen, und die meisten der wenigen Experten für die postsowjetische ukrainische radikale Rechte einschließt. Einige von uns publizieren in einschlägigen Fachzeitschriften, andere beschäftigen sich in Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen mit der Beobachtung und Analyse von Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine.

Aufgrund unserer Spezialisierung und Forschungsergebnisse sind wir uns der Problematik und Gefahren bewusst, die die Beteiligung rechtsextremistischer Gruppierungen an den ukrainischen Protesten birgt. Da wir uns jahrelang mit diesem Thema beschäftigt haben, können wir die damit verbundenen Risiken besser einschätzen als viele andere Kommentatoren. Einige unserer kritischen Berichte zu nationalistischen Tendenzen in der Ukraine haben wütende Repliken ukrainischer Ethnozentristen sowie aus der ukrainischen Diaspora im Westen hervorgerufen.

Obwohl wir den rechten Aktivitäten auf dem Euromaidan kritisch gegenüberstehen, sind wir besorgt über eine unerfreuliche Erscheinung in zu vielen internationalen Medienberichten über die jüngsten Ereignisse in der Ukraine. In etlichen Reportagen und Kommentaren wird in der einen oder anderen Weise die Rolle, der Stellenwert und der Einfluss ukrainischer Rechtsradikaler in Kiew überbewertet bzw. fehlinterpretiert. Einigen Berichten zufolge wird die ukrainische proeuropäische Bewegung von ultranationalistischen Fanatikern unterwandert, getragen oder gar übernommen. Bestimmte Kommentare erwecken den irreführenden Eindruck, dass die ukrainischen Proteste von derartigen Kräften erzeugt wurden oder gesteuert werden. Schockierende Bildmotive, markige Zitate, pauschalisierende Vergleiche und krude historische Bezüge stehen hoch im Kurs. Damit einher geht eine überproportionierte Gewichtung eines besonders sichtbaren, jedoch politisch zweitrangigen Elements im komplizierten Mosaik der unterschiedlichen Ansichten, Hintergründe und Ziele, welche die hunderttausenden Protestierenden antreiben.

Sowohl der gewalttätige als auch der gewaltfreie Widerstand in Kiew wird jeweils von Repräsentanten verschiedenster ideologischer Strömungen getragen und von Personen unterstützt, welche Probleme hätten, sich eindeutig einem bestimmten politischen Lager zuzurechnen. Nicht nur die friedlichen Protestanten, sondern auch jene, die Stöcke, Steine und sogar Molotowcocktails gegen Spezialeinheiten der Polizei sowie regierungsnahe Schlägertrupps einsetzen, bilden eine breite und dezentrale Bewegung. Die heutige Gewaltbereitschaft vieler Demonstranten ist eine Reaktion auf die wachsende Brutalität der Polizei und die Radikalisierung des Janukowitsch-Regimes. Unter sowohl den friedlichen als auch den bewaffneten Demonstranten finden sich Liberale und Konservative, Sozialisten und Libertäre, Nationalisten und Kosmopoliten, Christen, Nichtchristen und Atheisten.

Unbestritten ist, dass sich unter den gewalttätigen wie auch unter den friedlichen Protestierenden etliche Rechts- und Linksradikale finden. Jedoch spiegelt die Bewegung in gewisser Hinsicht die gesamte ukrainische Bevölkerung wieder. Die starke Betonung der Beteiligung rechtsextremer Randgruppen an den Protesten in einigen internationalen Medienberichten ist ungerechtfertigt und irreführend. Sie hat möglicherweise mehr mit dem Sensationspotential radikalnationalistischer Parolen, Symbole oder Uniformen zu tun, als mit der tatsächlichen Lage vor Ort.

Wir vermuten sogar, dass in einigen Berichten, insbesondere solcher kremlnaher Massenmedien, die übermäßige Betonung der rechtsradikalen Elemente auf dem Kiewer Euromaidan nicht auf antifaschistischen Motiven beruht. Im Gegenteil, derartige Berichterstattung ist paradoxerweise womöglich selbst Ausdruck von imperialistischem Nationalismus sein, in diesem Falle von dessen russischer Variation. Mit ihrer gezielten Diskreditierung einer der größten Massenbewegungen zivilen Ungehorsams in der Geschichte Europas liefern die russischen Medienberichte einen Vorwand für die politische Einmischung Moskaus, ja womöglich sogar für eine künftige militärische Intervention Russlands in der Ukraine, ähnlich derjenigen in Georgien 2008 (1).

Angesichts dieser Risiken bitten wir Kommentatoren, etwa solche aus dem linken Spektrum, bei ihrer berechtigten Kritik des radikal ethnonationalistischen Lagers im EuroMaidan vorsichtig zu sein, da entsprechende Texte leicht von Moskaus „Polittechnologen“ instrumentalisiert werden können, um Putins geopolitische Projekte umzusetzen. Berichte, welche rhetorische Munition für Moskaus Kampf gegen die ukrainische Unabhängigkeit liefern, unterstützen womöglich unabsichtlich eine politische Kraft, die eine weit größere Gefahr für soziale Gerechtigkeit, Minderheitenrechte und politische Gleichheit darstellt, als alle ukrainischen Ethnonationalisten zusammen genommen.

Wir bitten außerdem westliche Kommentatoren, die besondere Lage der ukrainischen Nation im Auge zu behalten und die komplizierte Situation des noch jungen, fragilen Staates zu berücksichtigen, der einer ernsthaften äußeren Bedrohung gegenübersteht. Die instabile Situation des Landes und enormen Alltagsschwierigkeiten einer Übergangsgesellschaft erzeugen vielerlei destruktive und widersprüchliche Meinungen, Verhaltensweisen und Diskurse. Eine Unterstützung von Fundamentalismus, Ethnozentrismus und Ultranationalismus hat vor diesem Hintergrund manchmal mehr mit der andauernden Verwirrung und den täglichen Sorgen der unter solchen Verhältnissen lebenden Menschen zu tun, als mit ihren tieferen Überzeugungen.

Schließlich bitten wir jene, die entweder kein größeres Interesse oder kein tiefergehendes Wissen über die Ukraine haben, sich nicht ohne gründliche Recherchen an Kommentaren über die verwirrenden politischen Verhältnisse dieses Transformationsstaates zu versuchen. Obwohl wir Spezialisten sind, ringen einige von uns jeden Tag damit, die fortschreitende politische Radikalisierung und Paramilitarisierung der ukrainischen Protestbewegung adäquat zu interpretieren. Angesichts der angewachsenen Regierungsgewalt, welche als Staatsterror gegen die ukrainische Bevölkerung bezeichnet werden kann, halten mehr und mehr einfache Ukrainer wie auch Kiewer Intellektuelle friedlichen Widerstand für inzwischen wirkungslos, auch wenn sie ihn eindeutig bevorzugen würden. Reporter, welche die dafür notwendigen Mittel, Zeit und Energie haben, sollten die Ukraine besuchen und/oder sich zu den angesprochenen Themen entsprechendes Wissen anlesen. Diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind, mögen ihre Aufmerksamkeit auf vertrautere, unkompliziertere und weniger ambivalente Themen lenken. Dies könnte dazu beitragen, dass die bedauernswert häufigen Klischees, Irrtümer und Fehlinterpretationen in westlichen Diskussionen über die Lage in der Ukraine künftig vermieden werden.

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(1) Weiteres in Anton Schechowzows aufschlussreichem Blog zu Aktivitäten verschiedener kremlnaher Institutionen, Verbindungen und Sprecher „Pro-Russian network behind the anti-Ukrainian defamation campaign“ auf. Derer gibt es vermutlich noch mehr.

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DIE UNTERZEICHNENDEN:

Iryna Bekeschkina, Institut für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Ukraine. Forschungsgebiet: Politisches Verhalten in der Ukraine
Tetjana Besruk, Kiewer Mohyla-Akademie, Ukraine. Forschungsgebiet: Die extreme Rechte in der Ukraine
Oleksandra Bienert, PRAVO. Berlin Group for Human Rights in Ukraine, Deutschland. Forschungsgebiet: Rassismus und Homophobie in der Ukraine
Maksym Butkewytsch, „No Borders!“-Projekt des Kiewer Social Action Center, Ukraine. Forschungsgebiet: Fremdenfeindlichkeit in der postsowjetischen Ukraine
Vitaly Chernetsky, University of Kansas, USA. Forschungsgebiet: Heutige ukrainische und russische Kultur im Kontext der Globalisierung
Marta Dyczok, Western University, Kanada. Forschungsgebiet: Nationale Identität, Massenmedien und historisches Bewusstsein in der Ukraine
Kyrylo Galuschko, Institut für Ukrainische Geschichte, Ukraine. Forschungsgebiet: Ukrainischer und russischer Nationalismus
Oleksij Haran, Kiewer Mohyla-Akademie, Ukraine. Forschungsgebiet: Ukrainische politische Parteien
John-Paul Himka, University of Alberta, Kanada. Forschungsgebiet: Beteiligung ukrainischer Nationalisten am Holocaust
Ola Hnatiuk, Universität Warschau, Polen. Forschungsgebiet: Rechte Tendenzen in der Ukraine
Jaroslaw Hryzak, Ukrainische Katholische Universität Lemberg, Ukraine. Forschungsgebiet: Historischer ukrainischer Nationalismus
Adrian Ivakhiv, University of Vermont, USA. Forschungsgebiet: Religiös-nationalistische Gruppierungen in der postsowjetischen Ukraine
Walerij Chmelko, Kiewer Internationales Institut für Soziologie, Ukraine. Forschungsgebiet: Ethnonationale Strukturen in der ukrainischen Gesellschaft
Wachtang Kipiani, „Istorytschna pravda“ (www.istpravda.com.ua), Ukraine. Forschungsgebiet: ukrainischer Nationalismus und Samizdat
Wolodymyr Kulyk, Institut für politische und ethnische Studien Kiew, Ukraine. Forschungsgebiet: Nationalismus, Identität und Medien in der Ukraine
Natalja Lazar, Clark University, USA. Forschungsgebiet: Geschichte des Holocausts in der Ukraine und Rumänien
Wjacheslaw Lichatschjow, Euro-Asiatischer Jüdischer Kongress, Israel. Forschungsgebiet: Ukrainische und russische Xenophobie
Mychajlo Minakow, Kiewer Mohyla-Akademie, Ukraine. Forschungsgebiet: Russische und ukrainische politische Modernisierung
Michael Moser, Universität Wien, Österreich. Forschungsgebiet: Sprachen und Identitäten in der Ukraine
Bohdan Nahaylo, ehemals UNHCR, Frankreich. Forschungsgebiet: Ethnische Spannungen in Osteuropa und der GUS
Wolodymyr Paniotto, Kiewer Internationales Institut für Soziologie, Ukraine. Forschungsgebiet: Postsowjetische Fremdenfeindlichkeit
Olena Petrenko, Ruhr-Universität Bochum, Deutschland. Forschungsgebiet: Ukrainischer Nationalismus während des Zweiten Weltkrieges
Anatolij Podolsky, Ukrainisches Zentrum für Holocaust-Studien Kiew, Ukraine. Forschungsgebiet: Neuere Genozid- und Antisemitismusgeschichte
Alina Polyakova, Universität Bern, Schweiz. Forschungsgebiet: Rechtsradikale Bewegungen
Andrij Portnow, Humboldt-Universität zu Berlin, Deutschland. Forschungsgebiet: Zeitgenössischer ukrainischer, polnischer und russischer Nationalismus
Jurij Radtschenko, Charkiwer Zentrum für interethnische Beziehungen Osteuropas, Ukraine. Forschungsgebiet: Ukrainischer Nationalismus während des Zweiten Weltkrieges
William Risch, Georgia College, USA. Forschungsgebiet: Ukrainische nationalistische Ideen und Politik
Anton Schechowtsow, University College London, Großbritannien. Forschungsgebiet: Rechtsextremismus in West- und Osteuropa
Oxana Shevel, Tufts University, USA. Forschungsgebiet: Ukrainische nationale Identität und Erinnerungspolitik
Myroslav Shkandrij, University of Manitoba, Kanada. Forschungsgebiet: Ukrainischer Nationalismus der Zwischenkriegszeit
Konstantin Sigow, Kiewer Mohyla-Akademie, Ukraine. Forschungsgebiet: Postsowjetische Diskurse über den „Anderen“
Gerhard Simon, Universität zu Köln, Deutschland. Forschungsgebiet: Zeitgenössische ukrainische Geschichte und Nationalitätenpolitik
Iosif Sissels, Verband der jüdischen Organisationen und Gemeinden (VAAD), Ukraine. Forschungsgebiet: Fremdenfeindliche Sprache und Antisemitismus
Timothy Snyder, Yale University, USA. Forschungsgebiet: Geschichte des ukrainischen Nationalismus
Kai Struve, Universität Halle, Deutschland. Forschungsgebiet: Ukrainischer radikaler Nationalismus und der Holocaust
Andreas Umland, Kiewer Mohyla-Akademie, Ukraine. Forschungsgebiet: Russischer und ukrainischer postsowjetischer Rechtsextremismus
Taras Wosnjak, Lemberger Magazin „Ji“, Ukraine. Forschungsgebiet: Ukrainisches intellektuelles Leben und Nationalismus
Oleksandr Sajzew, Ukrainische Katholische Universität Lemberg, Ukraine. Forschungsgebiet: Ukrainischer integraler Nationalismus
Jewhen Sacharow, Kharkiv Human Rights Protection Group, Ukraine. Forschungsgebiet: Fremdenfeindlichkeit und rassistische Gewalt in der heutigen Ukraine

 

 

20. Feb. 2014

 

 


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