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Antemurale christianitatis – Grenzsituation als Selbstverständnis1

Vortrag in L’viv am 25. März 2003

Heidi Hein


„Powrót do Europy“ – die „Rückkehr nach Europa“ - war das Schlagwort, unter dem die Transformationsprozesse, vor allem die Demokratisierung, in Polen nach der politischen Wende stattgefunden haben.

Die Vorstellung der Polen, daß ihr Land jahrhundertelang zu „Europa“ gehört und sich zu dessen politischen und religiösen Grundsätzen bekannt habe, ist auch ein wichtiger Faktor bei der aktuellen Diskussion über den Beitritt zur Europäischen Union. Ein wesentliches Argument dabei ist, daß Polen über Jahrhunderte hinweg die Europa und dessen Zivilisation vor einer „fremden“ Gefahr beschützt habe – zuletzt indem das Wirken des polnischen Papstes Johannes Paul II. und der unabhängigen Gewerkschaft Solidarität einen wesentlichen Beitrag zum Sturz der kommunistischen Regime in Ostmittel- und Osteuropa geleistet hätte. Hier wird also der Kommunismus, der ja aus der europäischen Geschichte entstanden ist, als nicht zur europäischen Kultur gehörend gesehen. Dieses Geschichtsbild resultiert aus der Vorstellung und setzt diese in abgewandelter Weise fort, daß Polen als Vormauer der Christenheit, als antemurale christianitatis zu sehen ist.

Antemurale christianitatis steht als Begriff als ein Moment des kollektiven Gedächtnisses, das in Polen über Jahrhunderte hinweg aufgebaut und bewahrt, erweitert und modifiziert worden ist. Dies geschah mit dem Ziel, für die Nation ihre Existenz durch die Tatsache zu begründen, daß sie dort und damals wie heute eine wichtige politische und kulturelle Funktion für die europäische Völkergemeinschaft ausübe.

Die historischen Forschungen zu diesem Begriff sind vor allem von Janusz Tazbir vorangetrieben worden. Sie legen in der Regel ihren Schwerpunkt auf die Entwicklung des Begriffes bis zu den Teilungen Polens, lediglich Tazbir führt sie bis ins 19. Jahrhundert und ansatzweise bis zur Schlacht bei Warschau gegen die Rote Armee von 1920 fort. Die vorliegenden Forschungen sind eher als deskriptiv anzusehen und verwenden keinen modernen theoretischen Ansatz, der die Frage nach dem Selbstverständnis erörtert. Selbst die neueste Darstellung von Małgorzata Morawiec faßt letztlich die Ausführungen Tazbirs zusammen.2

Nach einigen theoretischen Worten zum Mythos-Begriff wird daher zunächst die Entwicklung der antemurale-Vorstellungen in Polen skizziert werden, da diese als ideengeschichtliche Grundlage zu sehen sind. Dann wird skizziert, wie sich dieses Motiv unter den Bedingungen des geteilten Polen im 19. Jahrhundert und in der wiedererrichteten Zweiten Republik in der Zwischenkriegszeit wandelte.

Grundlegende Prämisse meiner Ausführungen ist, daß antemurale-christianitatis einen historischen Mythos bezeichnet, der aus der Grenzlage Polens heraus entstanden ist und zur Bildung des polnischen nationalen Selbstverständnisses in erheblichem Maße beigetragen hat. Dies geschieht vor der theoretischen Überlegung des “kulturellen Gedächtnisses” (Jan und Aleida Assmann), das von einem Zusammenhang von Erinnerung (bzw. Vergangenheitsbezug), Identität (bzw. politische Imagination) und kultureller Kontinuierung (bzw. Traditionsbildung) ausgeht, so daß eine Nation als eine „vorgestellte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson) gesehen wird.

Ein Mythos entsteht immer dann, wenn subjektiv spektakuläre, nicht alltägliche Ereignisse eintreten und über sie berichtet wird. Historische Mythen sind eine “Heroengalerie und Leistungsschau” und dienen der Selbstbestätigung und -identifizierung einer um ihr Ansehen ringenden sozialen Gruppe. Daher können nur bestimmte glanzvolle, heldenhafte Perioden, Momente oder Motive aus der eigenen Geschichte für diese „Leistungsschau“ ausgewählt werden. Daraus können schließlich der Gedanke einer kollektiven nationalen oder anderen gesellschaftspolitischen “Mission” und die Verpflichtung abgeleitet werden, diese auch gegenwärtig und in Zukunft zu verwirklichen, weiterzuentwickeln und ihrer würdig zu sein.

Wie die eingangs dargestellten Beispiele aus der Gegenwart der polnischen Dritten Republik zeigt, ist die Vorstellung Polens als antemurale christanitatis eine solche Ideologie der Selbstvergewisserung und Selbstrechtfertigung und beruht auf einer selektiven Interpretation der eigenen Geschichte. Sie ist also als ein historischer Mythos zu sehen, der einen wichtigen Anteil an der Bildung des polnischen Geschichts- und damit des nationalen Bewußtseins hatte und noch hat.

Der Begriff Vormauer impliziert eine Abgrenzung von anderen, von denjenigen, vor denen man sich schützen und verteidigen sollte. Gleichzeitig hat eine „Vormauer“, ein Bollwerk gegen etwas, eine das eigene Leben bzw. die eigene Lebensweise beschützende Funktion. Daher beinhaltet der Begriff auch ein Bekenntnis zu etwas, nämlich zu dem, was die „antemurale“ beschützen soll.

Insofern ist Tazbir zuzustimmen, daß die antemurale-Vorstellungen in einer engen Wechselbeziehung zu der geopolitischen Lage und der politischen Entwicklung stehen. Polens Lage am westlichen Rande der slavischen Bevölkerungsgebiete und vor allem am östlichen Rande der (katholischen) Christenheit zur Orthodoxie und während der Adelsrepublik noch in Nachbarschaft zu den muslimischen Osmanen, war die Grundvoraussetzung für die Entstehung des Begriffs. Er besaß von Beginn an daher inhaltlich zwei Konnotationen: die konfessionell-religiöse zur Abgrenzung von der russischen Orthodoxie und dem Islam, und die zivilisatorisch-politische zur Abgrenzung von der „östlichen bzw. asiatischen Barbarei“ – beide beinhalteten ein Bekenntnis zum Katholizismus und zur westlich-abendländischen Kultur.

Der Terminus antemurale wurde in bezug auf Polen verhältnismäßig spät, erstmals im Jahre 1462 von einem päpstlichen Gesandten benutzt, um den König zur Teilnahme an dem gegen die Osmanen gerichteten Kreuzzug zu gewinnen. Von da an wurde er von der päpstlichen Rhetorik verwendet, um Polen zur Teilnahme an den Türkenkriegen zu bewegen. Offiziell wurde Polen aber erst nach der Schlacht bei Chocim im 17. Jahrhundert in die Reihe der antemurale-Staaten aufgenommen.

Die antemurale-Vorstellungen entstanden jedoch in Polen viel früher als das Auftreten des Begriffs. Durch die bisherigen Forschungen wurde belegt, daß an ihrer Gestaltung und Propagierung polnische kirchliche und staatliche Würdenträger beteiligt waren. Dadurch sollten konkrete politische Ziele, die in einzelnen geschichtlichen Epochen unterschiedlich waren, realisiert werden. Sie waren ein Element der politischen Doktrin, die im Hinblick auf konkrete diplomatische Tätigkeiten sehr nützlich waren. Schon die ersten polnischen Herrscher nutzten die Lage Polens als christliches Grenzland aus, das von heidnischen bzw. häretischen Völkern umgeben war. Seit dem Mongolensturm in der Mitte des 13. Jahrhunderts trat Polen als Glaubensverteidiger und Beschützer des christlichen Europa auf.

In den Kriegen gegen die Osmanen im 16. und 17. Jahrhundert erfüllte Polen tatsächlich die Rolle des Bollwerks, wobei jedoch der Begriff sehr erweitert wurde. Denn er führte zur Herausbildung des Stereotyps des Polens (oder besser gesagt des polnischen Szlachic) als eines Katholiken, der dem Papst treu ergeben sei und den wahren Glauben gegen die Türken, die Tataren und das schismatische Moskauer Reich, zugleich auch die Adelsfreiheiten und die lateinische Kultur, verteidige. Dieses Verständnis führte zur Auffassung, daß die polnische Adelsnation ein auserwähltes Volk sei, dem besondere Achtung gebühre. Diese Auffassung schlugt sich im gesellschaftlichen Bewußtsein nieder und spielte eine bedeutende Rolle in der Innenpolitik und Kultur des polnischen Barock. Ein wesentlicher Faktor zur „Abrundung“ des antemurale-Bildes war der Sieg von König Jan III. Sobieski am Kahlenberg bei Wien von 1683, als der polnische Entsatz den Ausschlag für den Sieg über die osmanische Bedrohung gegeben hatte. Seitdem verlor das Osmanische Reich an Territorium und konnte seine äußere Stärke nicht mehr bewahren.

Wurde der Begriff bis zu den Teilungen Polens im politischen Diskurs verwendet, um konkrete politische Ziele durchzusetzen, so wandelte er sich nun unter dem Einfluß von Literatur, Kunst und Geschichtsschreibung zu einem politische Mythos, der die Vergangenheit der Adelsrepublik selektiv interpretierte und die historischen Verdienste Polens für Europa in den Vordergrund stellte. Er hatte mit der historischen Realität wenig zu tun, da die Adelsrepublik nicht nur ihr Territorium verteidigte und ein antemurale christianitatis errichten wollte, sondern auch Eroberungskriege im Osten führte. Zudem hatten sich doch die polnischen Könige und in noch größerem Maße der polnische Adel vor der Teilnahme an den verschiedenen Türkenligen regelrecht gedrückt. Auch die Turkophilie der Szlachta, die sich seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Adelsrepublik verbreitete und in der Adelstracht und der Adelsideologie des Sarmatismus deutliche Spuren hinterlassen hatte, wurde schnell aus der historischen Erinnerungl verdrängt.

Die Vorstellungen von antemurale christianitatis wandelten sich im 19. Jahrhundert. Es wurde nun als Bastion der Freiheit, als Schutzmauer gegen die Tyrannei aufgefaßt und in diesem Sinne zu einem integralen Bestandteil des polnischen Nationalbewußtseins. Polen verstand sich nun als eine Schutzmauer gegen russische Expansionspläne, als Verteidiger der Französischen und Belgischen Revolution, aber auch als eine slavische Insel, die sich gegen Germanisierung und Russifizierung gleichermaßen zur Wehr setzte. In der napoleonischen Ära präsentierten namhafte Publizisten wie Józef Wybicki und Stanisław Staszic, die historischen Verdienste Polens für Europa. Diese antemurale-Vorstellungen wurden daher in der napoleonischen Ära in einem metaphorischen Sinn als Verpflichtung des alten Europa und Forderung an dieses gesehen, beim Wiederaufbau der polnischen Staatlichkeit behilflich zu sein, da Polen Europa über Jahrhunderte hinweg die westliche Zivilisation vor der Barbarei geschützt und eine Mauer gegen den Ansturm aus Asien errichtet habe.

Ein besonderer und wichtiger Ausdruck dieser antemurale-Vorstellungen war die Entwicklung des polnischen Messianismus zur Zeit der polnischen Romantik. Im Messianismus wurde die Bollwerkfunktion in der Weise modifiziert, daß Polen der Christus der Völker sei. Aus der antemurale der Christenheit wurde der Vorkämpfer für die Freiheit der Völker. Dies wird in der Parole des Novemberaufstandes von 1830 deutlich, in der Forderung „für unsere und eure Freiheit“ zu kämpfen. Hier steht nicht die Rolle Polens als Grenzland zur „asiatischen Barbarei“, zu den russischen Häretikern und den heidnischen Osmanen im Vordergrund, sondern als Verteidiger, als Vorkämpfer gegen den Despotismus des Ancien Regimes und für die Freiheiten der Völker Europas.

Ohne die ideelle Grundlage der antemurale-Vorstellung hätte diese messianistische Auffassung nie entstehen und wohl auch nicht formuliert werden können. Besonders eindrücklich formulierte der Nationaldichter Adam Mickiewicz diese Vorstellung in den „Büchern des polnischen Volkes“ :

„Und die Polnischen Könige zogen zum Schutze der Christen in entfernte Länder, König Władysław nach Warna und König Jan nach Wien, zur Verteidigung des Westens und des Ostens. Nie aber eroberten die Könige und Ritter mit Gewalt ihre Nachbarländer, sondern betrachteten andere Völker als ihre Brüder und banden sie an sich durch die Wohltat des Glaubens und der Freiheit ... Und endlich sprach Polen: Wer auch immer zu mir kommt, der wird frei und gleich sein, denn ich bin die FREIHEIT ...“3

Der Messianismus, eine der grundlegenden Komponenten der polnischen Romantik, und die ständig präsente und präsentierte Erinnerung an die glanzvolle Vergangenheit der Adelsrepublik in allen Bereichen der Kultur, die in großem Maße die antemurale-Vorstellung absorbierte, waren eine wesentliche Grundlage für das entstehende polnische Nationalbewußtsein im 19. Jahrhundert, in dem man sich als integraler Teil des vom Despotismus zu befreienden Europas verstand.

Daher wurde auch die Vorstellung einer Allianz mit den Osmanen, etwa in Form der Legion Mickiewiczs, gegen den russischen Zaren akzeptiert. Hier spielte nicht mehr die Religion eine Rolle, sondern die Tatsache, daß das Osmanische Reich, das seit dem „Griechischen Projekt“ Katharinas der Großen von Teilungsideen gefährdet wurde, die Teilungen Polens nie anerkannt hatte.

Die polnischen antemurale-Vorstellungen richteten sich nun vor allem gegen das orthodoxe Rußland und das protestantische Preußen, während das katholische Österreich von dem Vorwurf der Bedrohung der polnischen Vormauer befreit blieb, zumal es seit 1867 seinem Teilgebiet einen autonomen Status gegeben hatte. Daher wurde etwa in bezug auf das preußische Teilgebiet die frühere antemurale-Funktion unter Jan Sobieski in Erinnerung gerufen. So etwa die deutschfeindliche Publizistin Maria Konopnicka: „Als der König Jan regierte, gegen Türken kämpfte und siegte, kamen Fremde aus der Ferne: Rette, König, Deutschland stirbt.“ Durch die allgemeine Situation und den Germanisierungsdruck und dem Kulturkampf wandelte sich wieder das antemurale-Verständnis. Danach nahm Polen nun seinen Platz unter den zivilisierten Völkern Europas als Bewahrer der slavischen Lebensformen gegen den aufklärerischen Drang des Westens ein. Im Osten sei die Vormauer in der Abwehr des barbarischen Ostens erhalten geblieben. Diese Interpretation formulierte erstmals der Historiker Jędrzej Moraczewski 1851, und sie wurde durch das Argument ergänzt, daß Polen sich historische Verdienste im Kampf gegen den deutschen „Drang nach Osten“ erworben habe. Gleichzeitig war Polen ein Teil der slavischen Mauer gegenüber der westlichen Zivilisation, wobei die polnischen Publizisten Rußland die Zugehörigkeit zur slavischen Welt absprachen, indem sie behauptete, daß das Zarenreich auf mongolisch-byzantinischen Traditionen aufbaue und daher weder christlich noch slavisch verankert sei. Polen war nun ein Bollwerk, wie die Vertreter der Krakauer Historischen Schule ausdrückten, bei der Abwehr aller Mächte und Strömungen, die die zivilisierte Welt in Gestalt Polens zu bedrohen und zu vernichten beabsichtigten.

Eine weitere Modifikation erfuhren die antemurale-Vorstellungen mit der siegreichen Schlacht bei Warschau im Jahre 1920 gegen die Rote Armee. Durch das „Wunder an der Weichsel“ wurde Polen zur Vormauer des westlichen, demokratischen Europas vor der „bolschewistischen Gefahr“. Ein wesentlichen Beitrag bei der Ausprägung dieses Mythos leistete der englische Beobachter der Entente, Lord Edgar Vincent d’Abernon, der die Schlacht als die 18. entscheidende Schlacht der Weltgeschichte darstellte. Er nannte sie:

„a battle of equal importance to the human race was fought and won, … it is probable that the Battle of Warsaw preserved Central and parts of Western Europe from a more subversive danger – the fanatical tyranny of the Soviet … the victory before the walls of Warsaw of 1920 was no less vital than the historical contests in which Poland in earlier years acted as a bulwark to the west”.

Wer dieses “Wunder an der Weichsel” zu verantworten hatte, war zwischen den politischen Lagern der Zweiten Republik sehr umstritten. Daß Polen eine Bollwerkfunktion gegen die „bolschewistische Gefahr“ eingenommen hatte, hingegen nicht. Hierbei lassen sich zwei grundsätzliche Richtungen, die kirchlich und nationaldemokratische sowie die der Anhänger des Marschalls Józef Piłsudski erkennen.

Die katholische Kirche nutzte das Bild von Polen als antemurale christianitatis für ihre Standortbestimmung im jungen polnischen Staaten. Es diente als die wichtigste Konzeption neben der Kirchenunion, mit der sie eine ideelle Grundlage für ihr Wirken aufbauen konnte, zumal antemurale-Vorstellungen in ihrer Geschichte eng mit der polnischen katholischen Kirche verbunden gewesen waren. Für die Jesuiten, die aufgrund ihrer engen Beziehungen zum Vatikan in einer besonderen Nahtstelle zwischen den Inhalten einer universalen Kirchenpolitik und einem spezifisch polnischen Katholizismus standen, 4 war die „große Idee Polens“ angesichts der geographischen Lage und ihrer mächtigen Nachbarn „Vormauer des Christentums zu sein“5. Danach stünde die große Aufgabe im Osten noch aus: Polen solle eine „ideelle Mauer“ aufbauen, durch welche die Seuche des Bolschewismus nicht nach Westen durchdringen könne. Diese sei stärker als der einstige Ansturm der Tataren, weil jene den Glauben unberührt ließen. Polen dürfe seine historische Mission, das Hineintragen der westlichen Kultur nach Osten, nicht vergessen. Das Motiv von Polen als antemurale christianitatis bestand in der Zweiten Republik folglich in kirchlichen Kreisen und damit wohl auch in den der katholischen Kirche sehr nahestehenden Nationaldemokratie vorwiegend immer noch aus dem historisch-kulturell-religiösen Aspekt, der nun mit dem der Abwehr der „bolschewistischen Gefahr“ verbunden wurde.

Da das Lager um den Oberbefehlshaber und Staatschef Józef Pilsudski seit dessen Staatsstreich 1926 in Form des autoritären Sanacja-Regimes durch historisch-politische Publizistik, durch Schulunterricht etc. das Geschichtsbild und staatliche Selbstverständnis der Bevölkerung Polens maßgeblich zu beeinflussen suchte, sei im folgenden auf dessen Ausprägung der antemurale-Vorstellungen eingegangen, zumal sie zur staatlichen Selbstdarstellung herangezogen wurden.

Dabei ist festzustellen, daß sie als ein integraler Bestandteil des Pilsudski-Mythos verwertet wurden. Durch diesen wurde Pilsudski in eine Kontinuitätslinie zu König Jan III Sobieski gestellt: Danach habe 1920 Piłsudski Europa vor der Roten Armee gerettet, wie Jan III. Sobieski vor den Osmanen gerettet habe. Jedoch wurde durch diese historische Kontinuität dargestellt, daß “wir [Polen] viele nationale Helden haben, aber unter ihnen nicht einen einzigen finden, der durch seine Tat den Marschall übersteigt.”6 So habe Pilsudski als „erster Soldat des wiedererstandenen Polen“ (Stanisław Hincza) durch seinen Sieg über die Rote Armee Polen gerettet. Dazu diente etwa die Huldigungsfeier für König Jan III. Sobieski in der Wawel-Kathedrale zu Krakau im Oktober 1933, die der Kopf des Sanacja-Regimes Piłsudski sorgfältig vorbereitet hatte. Dies wurde auch in der besonderen Rolle deutlich, die man den grenznahen Städten bzw. den Städten in den Kresy, den polnischen Ostgebieten, etwa in den Schulbüchern zuschrieb. Besonders ausgeprägt ist dies etwa in der Betonung der historischen Rolle Lembergs, das für die heldenhafte Verteidigung des Vaterlandes mit einem Orden ausgezeichnet wurde.

Die mit den antemurale-Vorstellungen verbundenen Konnotationen beinhalteten Verteidigung von Demokratie und Freiheit vor dem sowjetischen Drang nach Westen.

Eine zweite Ebene des antemurale-Denkens dieser politischen Richtung wurde durch diesen Sieg über das entstehende Sowjetrußland erst ermöglicht. Es schlug sich in den polnischen Plänen zu einer Föderation im Osten, der sog. Jagiellonischen Idee, nieder. deren wichtigster Vertreter wiederum Pilsudski war. Diese Vorstellungen gingen von der Annahme aus, daß die von der Zarenherrschaft befreiten Völker sich gegenseitig benötigten und eine Föderation zwischen Polen, Litauen und Weißrußland Vorbildcharakter bzw. eine Magnetwirkung auf die Völker des Nordkaukasus ausüben würde. Dadurch, daß die schwächeren Staaten polnische Hilfe in Anspruch nähmen, sollte gleichzeitig die Position Polens gestärkt werden. Ausgebaut wurden die Vorstellungen von einer Föderation im Osten in den 1930er Jahren durch die Idee eines „Dritten Europa“, eines Blocks oder besser gesagt eines Bollwerks zwischen der Sowjetunion und Deutschland, durch das Polen und die ostmitteleuropäischen Länder vor beiden Mächten geschützt werden sollte. In der zeitgenössischen Publizistik (Roman Dyboski, Polska a kultura Zachodu) heißt es daher: „die Verbindung zwischen der Idee von Polens als Vormauer der Christenheit und der jagiellonischen Idee ... ist die Idee der freiwilligen Verbindung der Völker.

Einen besonderen Aspekt dieser antemurale-Vorstellungen stellte die Bollwerk-Funktion dar, die einigen grenznahen Städten der „Kresy“, der Ostgebiete, zuerkannt wurde. In der schönen Literatur, in der Publizistik und nicht zuletzt in der Schulbuchliteratur wurde mit ihrer Geschichte die Idee einer Festung und Mission verbunden. 7 Besonders ausgeprägt war dies beispielsweise in der Betonung der historischen Rolle Lembergs8, das als östlicher Vorposten Polens gesehen wurde, während die diesbezügliche Rolle Wilna nicht in dieser intensiven Weise artikuliert wurde. Lemberg wurde daher für die heldenhafte Verteidigung des Vaterlandes – gemeint war der siegreiche Kampf der Polen9 um die Kontrolle der Stadt gegen ukrainische Truppen im Spätherbst 1918 und gegen die im Jahre 1920 vordringenden Rote Armee – als einzige Stadt kollektiv mit dem Orden Virtuti Militari ausgezeichnet. Bei dem sich entwickelnden Kult um die Verteidiger Lembergs wurde das Bild von Polen als antemurale christianitatis aufgegriffen, denn der Kampf um Lemberg wurde als Symbol des Kampfes für die innere Einigkeit Polens, für seine Ganzheit und die seiner Grenzen und nicht zuletzt für das Schicksal des polnischen Volkes interpretiert. Auch hier wurde in der „offiziellen“ Publizistik der Zweiten Republik der Bezug zu Piłsudski hergestellt.

Schlußfolgerungen:

Insgesamt so wird deutlich, daß sich der Begriff antemurale christianitatis zunächst aufgrund der geopolitischen Lage Polens in der skizzierten Weise zu einem historischen Mythoos entwickeln konnte. Von Bedeutung ist bei diesem Prozeß die Lage Polens an der östlichen Peripherie der westeuropäischen Kultur und am westlichen Rande der slavischen Kultur. Sie beeinflußte in erheblichem Maße die Auffassung von Polen als Grenz- und Frontland zu östlichen Kulturkreisen, von denen es scharf abgegrenzt wurde

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß antemurale christianitatis sich vom politischen Schlagwort im Zuge der Teilungen Polens zu einem historischen Mythos gewandelt hat, der die eigene Geschichte als einen ständigen Kampf gegen Polen und Europa bedrohende „unzivilisierte“, d.h. häretische oder heidnische Kulturen, empfand. Zweitens beinhaltete der Begriff von der „Vormauer“ gerade dadurch ein Bekenntnis zur europäischen Kultur, auch wenn sie teilweise in ihrer (west-)slavischen Ausprägung verstanden wurde. Impliziert wurden ein Bekenntnis zum Katholizismus, aber auch zur Freiheit und Demokratie

Damit trugen die antemurale-Vorstellungen in erheblichem Maße zur Ausgestaltung des polnischen Geschichtsbewußtseins und damit nationalen Selbstverständnisses und Identität bei, da die Grenzlage Polens als historische Mission verstanden wurde. Sie waren folglich auch eine Abgrenzung von dem jeweiligen Nachbarn, der als Bedrohung aufgefaßt wurde, und zugleich eine eigene „Leistungs- und Heroenschau“.

Antemurale christianitatis ist daher eine Ideologie zur Selbstbestätigung einer um Erhalt bzw. Größe ringenden Nation, in deren Bewußtsein noch die einstige Größe vorherrschte, indem man sich selbst als „Verteidiger“ der christlichen bzw. westlichen Zivilisation ansah. Dies Bild trug daher wesentlich zur eigenen Identitätsbildung, zur Ausgestaltung des polnischen Geschichtsbewusstseins und nationalem Selbstverständnis bei, und wenn auch dies nur über die negative Abgrenzung von dem jeweiligen Nachbarn geschah, der als Bedrohung empfunden wurde. Gerade diese Abgrenzung war daher für die Ausgestaltung der Identität dringend erforderlich war. Dieses Bild zur anderen Seite von der Grenze war von den eigenen Interessen geprägt und als Argumentation für diese eingesetzt

Damit ist antemurale christianitatis letztlich zugleich ein Auto- und ein Heterostereotyp, die aufs Engste von einander abhängig sind. Es hatte dennoch keinen starren Charakter, sondern wurde unter den spezifischen Bedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts weiterentwickelt, wie das eingangs zitierte Beispiel zeigt. Schließlich ist antemuralis christianitatis letztlich eine imaginierte Grenze, eine „Grenze im Kopf“. Die Vorstellung von Polen als antemurale christianitatis ist folglich eine Grenze, die von der Gesellschaft konstitutiert wurde, an der sich wiederum die polnische Nation konstitutiert.

Abschließend sei festgehalten, daß im Falle der antemurale-Vorstellungen der Raum als Grundvoraussetzung für die zweite Ebene von Identität dient und daß auf diese Weise ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden Ebenen herrscht: Antemurale christianitatis ist ein eindringliches Beispiel für den Zusammenhang von Identität und Imagination, von der Abgrenzung und dem Bild vom anderen und dem dazugehörigen Aufbau von einer „im Kopf konstituierten“ Grenze.