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Was folgt auf die Osterweiterung der Europaeischen Union?
Der Fall Polen/Ukraine

22.-25. Mai 2001 Lwiw-Przemysl


"Badische Zeitung" (12.394)

Adam Zagajewski

Soll man heilige Orte besuchen?

Mythische Orte darf man nicht besuchen, dachte ich. Man darf nicht an Orte reisen, deren Gewicht – massiv wie ein Monument aus Bronze – unsere Erinnerungen beschwert. Man darf es nicht tun, einfach deswegen, weil wir in dem Moment, in dem wir unser Ziel erreichen, ja doch nicht so recht wissen, was wir mit dem Erlebnis, mit der ganzen Rührung und Ergriffenheit anfangen sollen. Mein Vater, für den Lemberg jahrelang der einzige Ort und das einzige Bild der Welt war – dort wurde er geboren, dort verbrachte er seine Jugend – weigert sich systematisch, in diese Stadt zu fahren. Jedoch, als ich meinem Vater nach meiner Rückkehr aus der Ukraine – ich bin zwar in Lemberg geboren, kam aber nie dazu, der Stadt ansichtig zu werden – die frisch entwickelten Photos zeigte, erkannte er und erinnerte sich sogleich an jeden Straßennamen, an jeden Schlupfwinkel, beinahe an jedes Haus – und das nach einer 56–jährigen Abwesenheit.

Unser ganzes geistiges Leben scheint wie eine gut prosperierende Schneiderwerkstatt eine große Zahl an Hilfskräften zu beschäftigen, Zuschneider und Näherinnen, deren Aufgaben nicht nur geteilt, sondern auch widersprüchlich sind; die einen, die ruhigeren, vielleicht auch die etwas melancholischen, halten den Mythos in einem Zustand unberührter Vollkommenheit, die anderen hingegen, die beweglichen und skeptischen, arbeiten beständig, eine riesige Schere benutzend, an seiner Revision und üben sogar eine ziemlich freche Kritik.

Die Einladung der Heinrich Böll Stiftung, die im Mai 2001 eine internationale Konferenz in Lemberg organisierte, haben gewiss die anderen in die Hände bekommen, nicht die Hüter, sondern die Gegner des Mythos; wahrscheinlich haben sie sich ganz zufrieden die Hände gerieben und gesagt: aber ja doch, soll er nur hinfahren, vielleicht vergeht ihm dann endlich seine Gefühligkeit für diese sonderbare Stadt am Rande Europas.

Wir kamen in Lemberg spät abends an, und zwar mit dem Bus, in jener Atmosphäre irrealer Gemütlichkeit, welche jeder bequeme Reisebus erzeugt (Festung wärmender Sicherheit und Schläfrigkeit, mobiles Denkmal der Zivilisation), aus dem die Vertreter einer besseren Welt auf die unvollkommene Wirklichkeit hinausschauen. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass hinter der Fensterscheibe grässliche, postkommunistische Plattenbauten sich unscharf abzeichneten. Es sind die immergleichen Plattenbauten, die sich zwischen Kamtschatka und Leipzig ausbreiten, Menhire auf den Ruinen des sowjetischen Imperiums (in einer technisch verbesserten – philosophisch keineswegs! – Version sind sie auch zwischen Leipzig und Lissabon anzutreffen), sie erscheinen hier aber besonders trostlos.

Dann aber, am Donnerstag, den 24. Mai, noch vor acht Uhr in der Frühe, öffnete sich vor mir, kaum hatte ich die Vorhänge des Hotelzimmers im 6. Stock zurückgeschlagen, unmittelbar über dem dichten dunklen Grün des Jesuitengartens – in diesem erkältete sich einer von meinen im neunzehnten Jahrhundert lebenden Vettern, ein junger Jurist und Poet, dermaßen ernsthaft, dass er kurz danach an eine Lungenentzündung starb und nur als eleganter in Öl portraitierter Schatten hinterblieb – eine umwerfende Aussicht auf die wunderschöne Stadt, die hell-golden im Licht der grellen Sonne lag. Das Häuflein der inneren Spötter verstummte, die Schere hielt inne. In den drei Tagen meines lemberger Aufenthaltes war die Sonne der absolute Herrscher am Himmel. Ich hatte vor mir eine zarte, goldene Stadt, auf die ich von einer doppelten Anhöhe herabblickte; der Jesuitengarten steigt auf eine Anhöhe empor, dazu kommt die Höhe des 6. Stockwerks (das Hotel war neu, es wurde in den 80ern fertiggestellt.). Ich sah in der Ferne Kirchtürme – ich konnte den Turm der Kathedrale erkennen, die grünen Kuppeln der Dominikanerkirche, den Rathausturm, ich ahnte, wo sich die schmucke Fassade der Bernhardiner befinden musste. Ich wusste, wo der Marktplatz liegt, ich stellte mir das Theater vor, versteckt in den tieferen Etagen dieses Morgendschungels, ich sah die Anhöhe des Hohen Schlosses, welche die Perspektive wie ein Theaterprospekt schloss, und weiter rechts, immer noch umrahmt vom Stadtwald, dem „Kaiserwald“, eine Gegend, in der ein Häuschen ruhen musste, das mein Großvater in den 20er Jahren gekauft hatte, ein Haus, in dem ich geboren wurde.

Ich hatte vor mir eine ganz fremde und zugleich die bekannteste Stadt, eine vergessene, verabschiedete, verlassene, beweinte, erschossene, und doch eine wirklich existierende, jetzt ganz grell und real beleuchtet, eine plastische und lebendige Stadt, in der ich sofort die wichtigsten Kirchen erkennen konnte, eine Stadt, deren Topographie keine Geheimnisse vor mir hatte, sie erstreckte sich da unten zwischen den Hügeln, eine ruhige, majestätische Stadt. Man soll zu mythischen Orten nicht hinfahren, es ist nicht möglich diese zu erblicken, zu sehen, zu begreifen. Es ist einfach, Türme und Fassaden wiederzuerkennen, aber was dann? Was tun? Nach einer längeren Weile gab ich auf und nahm einen japanischen Photoapparat, um das unerhörte Morgenstadtspektakel zu verewigen, ich machte ein Photo, das ich jetzt ohne Rührung anschaue und auf dem fast nichts zu sehen ist, der Maiglanz verlor seine Glorie, die Türme sind kaum sichtbar, nur das Laub prahlt mit seinem einfachen Universalismus, und der Fernsehturm schimmert im Morgennebel.

Zum Glück musste ich noch keine Entscheidung treffen, ich konnte meine Fragen erst einmal zurückstellen: Der erste Tag war ganz den gebildeten, politischen und ökonomischen Debatten gewidmet, diskutiert wurde über die ukrainisch-polnische Grenze, ihren gegenwärtigen Zustand und ihren künftigen (- nach einem polnischen EU-Beitritt). Ich bewunderte das Wissen und die Eloquenz meiner Gefährten, die sich an alle Daten der Pogrome, der Aufstände und internationalen Konferenzen erinnerten; das klingt vielleicht etwas ironisch, ist aber ehrlich gemeint. Mir gefiel die Leidenschaft, mit der sie Fragen der Vergangenheit besprachen. Mit einer großen Sympathie hörte ich mir die Auftritte der einheimischen Teilnehmer dieser Konferenz an, die offen über viele Sorgen des jetztigen ukrainischen Lebens sprachen und nicht ohne Neid – und Hoffnung – in Richtung des westlichen Nachbarn, das heißt Polens, hinschauten. Obwohl sie auch einen kritischen Blick hatten, insbesondere die Vertreter der ukrainischen Minderheit in Polen. Was mich betrifft, so blamierte ich mich, denn unerwartet zur Antwort aufgerufen, (ich hätte die Entwicklung der Einstellung der polnischen Historiker zur ukrainischen Frage in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts charakterisieren sollen) versagte ich total, wodurch ich nur die negative Meinung bestätigte, die ein nüchterner Teil der Menschheit über Dichter seit dreitausend Jahren hegt.

Am folgenden Tag, als andere Konferenzgäste, nachdem sie eine pessimistische Prognose für die Zukunft der Ukraine und ihrem eventuellen EU-Beitritt ausgesprochen hatten, ihre Koffer packten und hauptsächlich nach Deutschland und nach Polen abreisten und wahrscheinlich zu einem anderen internationalen Meeting über unaufschiebbare europäische Sorgen eilten, fing ich erst mit meinen Beschäftigungen als Pilger mit unklaren Prärogativen und Pflichten an. Ich befand mich doch an einem, für mich außergewöhnlichten Punkt der Welt, in meiner Stadt, die nicht meine war, von der ich wenig wußte, in einer fremden Stadt, über die ich recht viel wußte, die doch ein bisschen meine war; es war so, als ob die wunderschöne Bezeichnung “ docta ignorantia ” die Buchseiten verlassen hätte und zu einer lebendigen Wunde auf der grünen Europakarte geworden wäre. Was hätte ich tun sollen? Wie verhält sich ein Reisender mit dieser eigenartigen Obedienz? Es gibt doch keine Fremdenführer für die in Lemberg geborenen Ignoranten. Es gibt keine Gebrauchsanweisung für solche, wie wir, die in Lemberg nur 4 Monate lebten, und nichts wissen – eine japanische Videokamera kann die vergangene Zeit nicht erfassen, der Stadtplan aus der Vorkriegszeit sagt nichts über die Gegenwart aus.

Am Morgen ging ich, getrieben von einem Pflichtgefühl, in eine Gemäldegalerie, die sich gegenüber dem ehemaligen Ossolineum befindet, ich schaute etliche italienische und französische Bilder an, nachgedunkelte Ölgemälde, die an Wänden hingen, die einen neuen Anstrich nötig hätten; es ist sichtbar, dass das Museum kein Geld hat, ähnlich wie manche Museen in Polen. Ich sah auch recht viel polnische Malerei aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert und vom Anfang des 20. Jahrhundert.

Indem ich in die Gemäldegalerie gegangen bin, verhielt ich mich genauso, als ob ich in einem beliebigen italienischen Städtchen oder in einer französischen Ortschaft wäre; wie ein Tourist. Die ganze Zeit über begleitete mich die Überzeugung, dass das nicht die richtige Art des Seins in dieser Stadt ist.

Jemand, der - wie ich in Lemberg – den Mythos und die Erinnerung respektiert, ist wie in einem narzisstischen Schlaf versunken. Deshalb sucht er etwas dunklere und eher leere Räume, Museumsäle – oder schattige Parks. Hingegen fühlt er sich schlecht auf der Strasse, die unbarmherzig von der Maisonne beleuchtet wird – insbesondere fühlt er sich seltsam, wenn er auf die ukrainische Menschenmenge hinschaut, die die hellen Strassen erfüllt. Diese Menge, manchmal jung, unbekümmert, ein anderes Mal recht alt und sehr bekümmert, arm, gelegentlich eher dörflich als städtisch gekleidet, zerstört den Traum, vereitelt Spekulationen. Eine sonderbare Situation: In einer Stadt zu sein, die beinahe nach mandelstamer Art “bis in die Tränen, bis in die Mandeln, bis in die Adern bekannt” ist, aber durch eine andere, ganz fremde Menschenmenge ausgefüllt ist. Sie ist nicht anders, als jene, die man kannte, denn ich kann doch nicht sagen, dass ich die Lemberger Vorkriegsmenschenmenge gekannt hätte - aber sie ist anders als zum Beispiel eine Krakauer, oder Warschauer, oder sogar die Menschenmenge in Gliwice. Traumverloren gehe ich eine Strasse entlang, die in der grellen Sonne ertrinkt. Auf dem Stadtplan aus der Vorkriegszeit, den mir mein Vater zugeschickt hatte, prüfe ich die Strassennamen, ohne die neue ukrainische Namengebung zu beachten.

Gewiss besichtigen deutsche Touristen Danzig und Breslau genauso traumverloren, die Aktualität der Stadt ignorierend. Ähnlich müssen auch im Krakauer Kazimierz junge amerikanische oder israelische Juden herumgehen, die die Vorkriegszeit suchen - traumverloren. Wir sind wie Geister, ungeduldig verdrängen wir das, was real ist, das heißt das neue Leben. Weil uns das neue Leben in den alten Städten unvollkommen erscheint, zufällig, provisorisch und eigentlich nicht zu gebrauchen.

Im gewissen Sinne sind alle träumerischen Vergangenheitssucher - zu denen auch ich drei Tage lang gehörte, als ich in den Strassen und Parks Lembergs herumging - ideale Konservatoren, und sie replizieren ideal die Impotenz des Konservatismus. Sie suchen etwas, was es nicht gibt - ja, was niemals existierte, denn sie verschönern mit ihrer Vorstellungskraft jene Stadtmenschenmenge, deren Chimären sie heraufbeschwören, sie suchen nach besseren, schöneren Zeiten, und selbst wenn ein wohlwollender Zauberer auf ihre Wünsche eingehen würde und für 5 Minuten das, was sie wollen, wieder ins Leben rufen würde, also das Leben vor der Katastrophe, die Menschenmenge vor der Katastrophe, Wolken vor der Katastrophe, Schaufenster, Fliedersträuche vor der Katastrophe, dann hätten sie dennoch enttäuscht ausgerufen, o nein, das ist nicht dasselbe, jenes war viel schöner.

Mein Zauberer erwies sich vernünftig. Es war Andrij Pawlyszyn, ein junger Ukrainer, ein Redakteur der Zeitschrift “Ji”, Historiker, der in Lemberg verliebt ist, ausgezeichnet polnisch spricht und sich gut in der polnischen Literatur auskennt. Er schlug vor, mir die Stadt zu zeigen, und tatsächlich durchstreifte mit mir einen halben Tag lang Lemberg; er nahm einen Ringweg, der durch Lyczakow und das Hohe Schloss bis in die Nähe vom Marktplatz führte. Auf der Akademickastrasse (das ist der Strassenname aus der Vorkriegszeit - er kannte die alten Strassennamen aber auch ganz gut) zeigte er mir die Stelle, wo sich das berühmte Philosophen-Café “Szkocka” befunden hatte. Eine Weile später gingen wir an einer Jugendgruppe vorbei, die russisch sprach, Andrij meinte, es seien Schüler einer polnischen Schule, diese würden auf der Strasse miteinander russisch sprechen. Sein Wissen verhalf mir dabei, auf den Boden herunterzukommen.

Wir schauten uns ein Mietshaus in der Lyczakowskastrasse 55 an, wo Zbigniew Herbert gewohnt hatte. Andrij erzählte mir von Versuchen, dort eine Gedenktafel aufzuhängen. Wir gingen auch in die Piaskowastrasse - zwei Schritte von Lyczakowskastrasse entfernt - um das Haus anzuschauen, das vormals meinem Großvater gehörte. Wäre ich allein gewesen, hätte ich mich mit der Betrachtung des den Garten umringenden Zauns, des Gartenpförtchens, der verrosteten Klinke und der Bäume begnügt. Vielleicht hätte ich es gar nicht mehr gewusst, dass das Haus, das man von der Straße aus sehen kann, jemandem anderen gehört hatte und unser ehemalige Familienhaus versteckt hinter diesem ersten Gebäude steht - ich hätte einen Fehler begangen, der typisch für jene Geister ist, die nach dem alten Kalender die neuen Städte besichtigen, so dass sie gelegentlich an einer falschen Adresse ihre Ekstase erleben. Andrij schlug mir aber eine Hausbesichtigung vor und drückte die Klingel; in die Gegensprechanlage erklärte er, worum es ginge und wen er mitbringe, und nach einer Weile erschien vor dem Tor eine ältere Frau, misstrauisch zunächst, und gleich danach sehr gastfreundlich, sie ließ uns erst in den Garten dann auch in das Haus hinein.

Dank ihm sah ich zum ersten Mal das legendäre Familienhaus von innen, jetzt von einer ältere Frau und ihrem Sohn, einem Hautarzt, bewohnt; das Alles verdanke ich meinem Fremdenführer. (Ich war schon einmal, noch als Student, in Lemberg, aber damals habe ich mich nicht getraut, an die Tür des Ex-Hauses anzuklopfen.)

Ich verstand, wie nötig ein intelligenter Fremdenführer ist, der sich mit der aktuellen Realität auskennt, die Vergangenheit aber nicht ignoriert. Ein Fremdenführer, der aus dem nebligen Mystizismus hinausführt. (rettet)

Ja, dachte ich, als ich bereits im Flugzeug saß, man soll doch die mythische Orte besuchen, auch wenn man schwere Stunden durchmachen sollte, auch wenn es nicht frei von Traurigkeit sein sollte, man soll die mythische Orte besuchen, denn sie sind ein in den eiskalten Äther abgeschobener Pol unseres Lebens - man soll sie besuchen, aber nicht ohne einen geeigneten Fremdenführer.

Auf dem kleinen Lemberger Flughafen verabschiedeten sich von mir die im Stil des sozialistischen Realismus gebildeten Sandsteinskulpturen - ein Soldat, Bäuerin, Flieger und Arbeiter, sie standen stramm in der grellen Sonne wie Helden einer vergessenen griechischen Sage.